Alles inzwischen ganz entspannt in Shanghai. Die Musiker dösen ergeben auf ihrer x-ten Fahrt der Halle entgegen. Der Verkehr ist mittlerweile selbst am Samstag intensiv, zwischen 45 Minuten und einer Stunde dauert es – one way. Im milden Smogfumato-Licht eines kühlen Frühlingstag sehen die meisten Hochhäuser irgendwie schön aus, die Neon-Grellheiten wie Leuchtreklamen oder kreischbunt angestrahlte Baumstämme, von denen die farbenliebenden Chinesen nicht ablassen können, wirken weniger aggressiv. Sehr komisch auch die mit einer Art Blümchensteppdecke als Windschutz verkleideten Mofas. Der kranke Geiger ist wieder aus dem Spital, alle Sänger sind angekommen, auch der russische Bass Mikhail Petrenko, dessen Flieger verspätet war. Die Solistenprobe ist zu Philippe Jordans Zufriedenheit verlaufen, die weitere Probe für die Pastorale (in Wien gespielt) und die 7. Sinfonie (einige Zeit nicht mehr aufgeführt) ging nicht so lange wie befürchtet. Wer wollte, konnte sich für immerhin 90 Ausruhminuten ins Hotel zurückchauffieren lassen. Die Majorität bekam Fingerfood in einem hallennahen Beherbergungsbetrieb.
Und die wenigen Glücklichen die heute gar nicht spielen mussten (jeder mitfahrende Musiker – 30 sind zu Hause geblieben – hat im Schnitt zweieinhalb der vier Programme zu absolvieren) konnte in die Stadt ausschwärmen. Etwa in den Yu Yuhan, den Garten der Zufriedenheit, 1759 begonnen und als Shanghais bedeutendste klassisch-chinesische Sehenswürdigkeit klassifiziert. Eine pittoreske Miniaturwelt aus Goldkarpfenteichen und Pavillons, Bambus und Päonien (Plastik-)Lotusblumen, wie Schweizerkäse durchlöcherten, zum Teil kultisch verehrten Steinhügeln, Treppchen, Drachenmauern und seltsam geformten Durchgängen zwischen dem China-Disneyland, das drumherum das alte Viertel weitgehend ersetzt hat. Dauernd tun sich in dieser Nosalgie-Puppenstube neue Perspektiven auf. Und weil es sich eintrübt, kann man sogar dem Reiseführerhinweis folgen, dieses Kleinod-Idyll am besten bei Regenwetter zu besuchen, wenn es leerer ist und auf den Bananenblättern die Tropfen ploppen. Sehr poetisch!
Konzertrituale, mal westlich, mal östlich. Bei Philippe Jordan ist das der nicht immer rechtzeitig kommende Maestro-Mocca für die Pause aus einem nahgelegenen Coffeeshop, denn im ganzen Haus war keine adäquate Kaffeemaschine aufzutreiben. Und nach dem Konzert ist es vor dem ersten Applausbad ein kaltes Bier, das hastig runtergezischt wird. Dann kann er für die Zugaben zum Podium sogar zurückjoggen.
Draußen vor dem Shanghai Oriental Art Center stehen dichte, schreiende Trauben von Schwarzhändlern, das scheint hier so unabdingbar wie in Moskau vor dem Bolschoi Theater. Hinter ihnen zuckt schrill die LED-Werbung der Konzerthalle: Pekingoper und tschechisches Ballett, Wiener Kontrabass-Truppen und das Philadelphia Orchestra, das hier eine jährliche Residenz hat und im Mai zurückerwartet wird, wechseln sich ab. Drinnen posieren die Besucher vor einer Farbtafel der Konzerthalle, auch weitere Symphoniker-Plakate sind ein beliebtes Selfie-Motiv. Das Sortiment der diversen CD-Händler lässt keinerlei Ausrichtung auf das jeweilige Abendprogramm erkennen. Dafür beeindrucken die Vitrinen mit den hier offensichtlich sehr nachgefragten Spieldosen. Sich drehende Hochzeitspaare auf dem Deckel, vollplastische Shanghai-Silhouetten oder Rosenholz-Einlage, alles ist möglich.
„Nach Morgen wird es endlich eine normale Tournee“, stöhnt Intendant Johannes Neubert in komischer Verzweiflung. Dann ist der Probenstress für dauernd ein neues, zum Teil noch wenig vertieftes Programm vorbei, dann wird rekapituliert, weitergereist. Dann erfolgt das, was ein Orchester zu solchen Reisen motiviert und weiterbringt. Das gemeinsame Muszieren an neuen Orten unter anderen Bedingungen. Wiederholung als Optimierungsprozess. Im Augenblick, der Beethoven-Zyklus ist zu Dreivierteln herum, ist es eine andere Art von Adrenalinrausch. Man erlebt das absolute Repertoirefiletstück eines jeden Klangkörpers, wie es sich als DNA hier neu zusammensetzt und so auf einige Jahre hin festgeschrieben wird. Da wird eben gefeilt, poliert, aus den frischen Erfahrungen von gestern oder heute morgen für den Abend Energie und Wissen, Mut und Neugier gezogen. All-Beethoven in vier aufeinanderfolgenden Konzerten, jetzt auch noch jeden Tag ein anderes Werk auf dem Probenplan, das schlaucht und motiviert zugleich.
Die Musiker nehmen es gelassen, die Extreme dieser Tage sind ihnen nicht anzumerken. Jeder ist konzentriert, keiner verbissen, man freut sich auf das Voranschreiten, die Vollendung des Zyklus. Dafür wird in jeder Ecke und Minute in dem wie meist engen Backstage-Bereich akribisch und versunken sich eingespielt, das Instrument gewärmt, geschmeidig gemacht; Münder, Finger sind zu präparieren. Trotzdem bleibt offenbar noch Zeit für Lektüre. Ja, die Wiener Symphoniker scheinen ein lesefreudiges Orchester. So mancher sitzt schon mehr als eine halbe Stunde vor Abfahrt mit einer dicken Schwarte im Lederschutzumschlag im Hotelfoyer und zieht das auch in der Pause durch, während sich die anderen am kärglichen Büffet mit Bananen, Crackers, Schokoriegeln und zweifelhaft warmem Instantkaffee schadlos halten. Andere blättern lieber in kürzerem, aber hochwertigem Lesefutter wie Julian Barnes’ eindrücklich stimmungsdüsterer Schostakowitsch-Skizze „Der Lärm der Zeit“.
Im Konzert flutsch es dann. Wirklich. Die Pastorale gerät zu einem fröhlich-freundlichen Fest der Farben. Jetzt sind wirklich alle im Spielfluss, trotzdem gelingt das so akribisch wie klangzart. Da wird allerfeinst nuanciert, aber Jordan legt vor allem Wert auf großflächige Entwicklungen, hier regiert das Panorama, nicht nur die kleinteilige Phrase. Er zeichnet trotz Gewitter, das kein existenzialistischer Weltenbrand ist, sondern eben nur eine kurzweilige Himmelentladung, ein wie hingetupftes Aquarell, kein ölsattes Landpartie-Panorama. Die Halle ist komplett voll, extrem still. 500 Zuhörer sind Wiederholungstäter, die alle Abende gebucht haben. Herrlich, wie Jordan die Satzenden ganz leicht wegfliegen lässt, ohne jedes Pathos, ohne Ausrufezeichen – „ist halt vorbei.“ So schön musiziert das wohl nur ein Wiener Orchester. Man möchte gleich weitermachen mit den Frühlingstimmenwalzer, dem in Sievering blühenden Flieder, den Dorfschwalben aus Österreich…
Und dann die 7. Sinfonie als rhythmusschnalzendes Gummiband, unendlich elastisch, extrem dehnbar, aber immer wieder ins alte Tempo zurückfedernd. Das ist wie eine rasante Achterbahnfahrt der Klanggefühle, freilich stets kontrolliert, nie gefährdet, scheinbar ohne jedes Risiko. Als Zuhörer genießt man, zittert nicht mit. Man erlebt hier durch die unmittelbar vorangegangen Hörerfahrungen eine vertraute Wendung aus der 4., da eine Motiv aus der 5. Weich gleitet es in den Prozessionscharakter des 2. Satzes, das Finale ist enthusiastischer Instrumentaljubel, ohne Verzerrungen, knallige Akkorde.
Diesmal gibt es die Coriolan-Ouvertüre als Zugabe, gut ausgewählt, mit ihrem leisen Ende, nach so vielen orchestralen Entladungen. Einige klatschen verfrüht, kein Wunder, wie mögen europäische harmonische Wendungen auf chinesische Ohren wirken, wenn wir unsere asiatischen Hörerfahrungen zum Maßstab nehmen? Und dann, der nur für die Zugaben mitgekommene Schlagzeuger hat endlich ausreichend zu tun: ein Johann-Strauss-Gewitter als Beethoven-Antwort. „Unter Donner und Blitz“, Polka schnell op. 324, mit sehr lauten Posaunen, viel Gerumse und noch mehr Gekreische im jetzt Standing Ovations spendenden Saal. Das hätte uns klar sein müssen. Denn wir war schon beim Abflug in allen Wiener Zeitungen über den von Operettenurgestein-Filius Daniel Serafin in einem Pekinger Luxushotel bereits zum vierten Mal ausgerichteten Vienna Ball samt bekröntem Debütantinnen zu lesen? „In keinem Land der Welt gibt es so viel Begeisterung für Österreich. Die Wertschätzung für unsere Tradition ist eindrucksvoll.“ Stimmt.
Der Beitrag Freude, schöner China-Böller: mit den Wiener Symphonikern auf All-Beethoven-Mission in Shanghai Teil V erschien zuerst auf Brugs Klassiker.