In Philippe Jordans Garderobe sitzt vor dem letzten Konzert des Beethoven-Zyklus der Wiener Symphoniker in Shanghai eine Chinesin, sie ist Geigerin aus seinem Pariser Orchester und hat eben hier ihre Tochter besucht. Jetzt ist sie extra ins Konzert mit dem anderen Klangkörper ihres Chefs gekommen. In dem berühmten „Von Mao zu Mozart“-Film, wo man den legendären Geiger Isaac Stern sieht, wie er 1979 kleinen Kaderkindern westliche Musik nahe bringt, ist sie auch dabei. Die Klassiksaat ist hier also aufgegangen. Ge Song, ein in Shanghai geborene Chinese, spielt auch bei den Wienern Erste Geige und „ich bin sehr stolz, wieder mal mit dem Orchester hier zu sein“ kommt es im Brustton rot-weiß-rot-roter Überzeugung.
„Wenn in ganz China inzwischen wirklich ein Prozent Klassikliebhaber wohnen, dann wären das 13,7 Millionen“, reibt sich hingegen Symphoniker-Intendant Johannes Neubert angesichts so viel Konsumenten-Potenzials die Hände. „Und jetzt zeigt sich die wahre Natur unseres Beethoven-Projekts: acht Neuntel waren Kunst, jetzt beginnt die Völkerfreundschaft.“ Er sagt das im Hinblick auf den chinesischen Studentenchor, der am Morgen schon vor der Ankunft der Symphoniker (Sonntags nur 20 Minuten Busfahrt!) für die erste und letzte Orchesterprobe hinter dem Orchester in der Halle des Shanghai Oriental Art Center Platz genommen hat. Der Wiener Chordirigent Michael Schneider war schon beim Frühstück hochnervös, jetzt schlägt auch für ihn die Stunde der Wahrheit. Hat sich der tagelange Einsatz gelohnt?
Doch erst mal wird der Chor wieder zum Üben geschickt. Jede Minute zählt. Probe 8. Sinfonie. Erst nach der Pause ist 9.4. dran. Bevor es losgeht bedankt sich noch Paukist Michael Vladar (ja, aus einer der vielen Wiener Musikerdynastien) für das schöne gestrige Konzert und die effektiven Proben. Er, eine Bratscherin und Jordan sind die einzigen, die wirklich alle Neune aufführen. In einigen in den ersten Sitzreihen liegenden Geigenkästen finden sich inzwischen neben den obligatorischen Kinderfotos und Musikerwitzpostkarten erste Shanghai-Ansichten.
Als Jordan vor das Orchester tritt, gibt es ebenfalls Applaus – kein Zweifel, die 6. & 7.-Combo hat den letzten Dreck aus den Fundamentfugen dieses sinfonischen Denkmals gespült. „Die leeren Take bitte in Viertel zählen“, mahnt Jordan trotzdem nach dem ersten Satz an. Auch Meister Mälzels Metronom bumpert gleichmütig gelassen das ununterbrochen durchgespielte Allegretto scherzando lang. Nur der heikle Streicheranfang des 3. Satzes wird wiederholt. Am Final-Ende taugen ihm die Pauken-Oktaven in der Stretta nicht – das tiefe F ist zu laut“. Ein Tempotaschentuch auf dem Ziegenfell dämpft.
Nach der Pause wird der Chor offiziell begrüßt. Nieh hao! Die Mädels stöhnen vernehmlich und zücken die Handys als der blonde Tenor Bernhard Richter unter ihnen vorbeigeht. Dem eigentlich ebenfalls blonden Bass Mikhail Petrenko sind hingegen inzwischen die Locken abhandengekommen: Er präsentiert sich kurzgeschoren – und ist somit weniger interessant. Nervös blinzelt He Wu vor ihrer ersten Neunten, Mihoko Fujimura ist die Mezzoruhe selbst.
Das Deutsch von Petrenko, der gemäß Partitur den vokalen Anfang macht, ist trotz vieler Wagnerrollen gewöhnungsbedürftig, da müssen sich die gleich einsetzenden Chorbässe nicht verstecken. Nix da „Fleude“, die Diktion ist ok, auch im Restchor, immerhin 91 Kehlen stark. Sie schleppen ein wenig, aber Jordan lässt erst mal stoisch durchspielen, will hören, woran er ist. Die „Mi-lli-onen“ wackeln, der „Kusssss“ zischt gewaltig. „Great progess“, lobt Jordan motivierend in Richtung Chor, alle beklatschen sich höflich gegenseitig. „Sing it with a smile“, fordert er bei der „Freude“ ein.
Eine Stunde wird akribisch geputzt, dann sind sie entlassen. Da ist Jordan Opernpragmatiker. Er muss Energie für den Abend bleiben. Und man stelle, sich mal vor, ein deutscher Chor würde Schiller auf Chinesisch singen. Lieber noch ein paar instrumentale Details mit dem Orchester fixieren. „Super, wir haben den Zyklus geschafft“, ist sich der Chef am Ende der Probe sicher. „Ich wünsche gute Ruhe bis heute Abend.“
Ruhe ist gut. Soloflötist Erwin Klambauer zum Beispiel muss mit dem Intendanten 260 Bewerbungen für ein Flötenvorspiel vorsortieren. Andere wollen noch auf die diversen hohen Häuser fahren. Wir haben einen Termin mit der künstlerischen Direktorin des Shoac, Mrs. Liu empfängt im französischen Themenrestaurant Paris-Shanghai zum Tee. Ja, die Halle ist vom Staat gebaut, aber sie wird von einer privaten Kompagnie betrieben, sie müssen schauen, dass sie wirtschaftlich arbeiten. Etwa 20 westliche Spitzenorchester kann sie im Jahr präsentieren. Bei den Wiener Symphonikern kosten die Karten zwischen 10 und 150 Euro.
Beethoven 2020 ist für Mrs. Liu sehr wohl ein Thema, sie streut es thematisch, doch dieser Zyklus, ja, wirklich der erste eines internationalen Klangkörpers in China, war besonders wichtig; freilich folgen Dudamel und Venezolaner auf den Fuß. Es gibt auch viel Education, mehr als 580 Konzerte und Masterclasses hat sie seit Eröffnung des Centers vor über 10 Jahren veranstaltet, sie sind sehr beliebt, auch mit Schulen und Jugendorganisationen wird zusammengearbeitet. Nur diesmal war nichts drin, dem engen Probenplan ist’s geschuldet: „Dafür haben wir schnell noch die Pressekonferenz am Anfang organisiert, die war sehr effizient, wir hatten viele Vorberichte, besonders in den sozialen Medien, wo sich heute eigentlich alles Wichtige tut, die Zeitungen sind für uns kaum mehr interessant.“
Oben im Foyer lassen die zahlreichen Besucher ihre per Handy bestellten Tickets an großen Nummerndisplays ausdrucken. Daneben gibt es für Coupons süße Bohnenpastebällchen oder – passend zur in der Opera Hall gezeigten Kunqu Oper die Parfümprobe „Blossoms in a Spring Monlit Night“. Hinter den Kulissen ist schon wieder Aufregung. Mikhail Petrebko hat seine Frackhose vergessen. Zum Glück findet sich eine passende in einem Kontrabass-Kasten.
Die 8. Sinfonie hat insgesamt einen reizend verhuschten Scherzo-Charakter. Eine Wienerische Maskerad, was sonst? Morgens, bei der Probe noch flirrender, Mendelssohn-nahe. Abends zieht Philippe Jordan an, wird konturierter etwas grelle. Trotzdem: Es wird wieder einmal deutlich, wie sehr diese neun Sinfonien in einer chronologischen Reihe, komponiert im Wien der Jahre 1799-1824, niemals so intendiert eine Menschheitsgeschichte sind, universell, zeitlos, gültig. Der Europäer genauso folgen können und wollen wie Amerikaner oder Asiaten. Faszinierend ist das neuerlich in Shanghai zu erleben. Die Neunte erhebt ach dieses aufmerksam folgende Publikum zum Sternenzelt. Sonor und klangstark wallt der 1. Satz, stark in seiner nie nachlassenden Rhythmik, schön ausgesungen wird das Adagio des 3. Satzes. Und auch der Chor, mit viel Beifall schon beim Einzug bedacht, wächst über sich hinaus, eine Wand aus Klang, doch die Solisten behaupten sich davor. Mit Feuereifer geht es in die Schlusskurve, dann entlädt sich der freudige Götterfunken auch im johlenden Saal. Noch einmal muss der „Chineser Galopp“ folgen.
Hinterher lässt sich bei Philippe Jordan in der Garderobe sogar der Schweizer Botschafter blicken. Autogrammjäger an jeder Türe und Ecke sind zu absolvieren (sogar noch spätnachts im Hotel!) Dann lädt Mr. Wu, dessen Pekinger Agentur das Symphoniker-Gastspiel vorbildlich organisiert hat und der extra zum Schlusskonzert eingeflogen ist, zusammen mit dem perfekt französisch sprechenden Direktor des Grand Theaters, dessen Chor aufgrund eines Missverständnisses nicht die Neunte singen konnte, zum Feuertopfessen. Jetzt ist die internationale Klassikwelt wieder sehr klein, Mr Wu hat in Wien studiert. Namen werden durchgehechelt, letzte News ausgetauscht. Shanghai und Wien – nur ein Wimpernschlag. Man sieht sich nächste Woche in Salzburg!
Schön war es. Vorbei ist es. Gut ist es. Dieser Beethoven sollte und musste eine Visitenkarte werden. Das ist gelungen, nach dem intensiven Konzertquartett in Shanghai ist das allen klar. Doch nach Beethoven ist vor Beethoven: drei weitere Konzerte stehen in Nanjing und Peking an, drei weitere Sinfonie-Tranchen warten allein diese Saison noch in Wien. Für die Symphoniker gilt freilich ab sofort: 2020 kann ruhig kommen! Und Philippe Jordan widmet sich in Wien weiterhin Bach – und mit Zeitgenössischem verbrämtem Bruckner. Und für den kleinen Fantomschmerz zwischendurch empfiehlt sich die frisch erschienene, in China gern als Präsent genommene Symphoniker-CD mit dem letztjährigen „Frühling in Wien“-Programm unter Manfred Honeck (dessen Sohn in den zweiten Geigen spielt). Eine Walzer-Bonbonniere, und Ziehrers vom Orchester gepfiffene „Weana Mad’ln“ sind bereits bei iTunes und in der Telefonschleife.
Der Beitrag Freude, schöner China-Böller: mit den Wiener Symphonikern auf All-Beethoven Mission in Shanghai – Teil VI erschien zuerst auf Brugs Klassiker.