Was ist da nur los? Es ist die Zeit der Pressekonferenzen für die nächste Opernsaison. Binnen weniger Tage haben drei der ganz großen Häuser, die Bayerische Staatsoper, das Royal Opera House Covent Garden und die Wiener Staatsoper ihre Planungen bekannt gegeben. Und alle köcheln sie doch sehr auf Nummer sicher. Ist es die Weltlage, das unsichere Klima, die saturierte Zeit? Man weiß es nicht. Aber die Musiktheater-Rezepturen muten doch alle sehr brav, bekannt und wenig wagemutig an. Drei mächtige, mit viel Geld ausgestatte Institutionen treten auf der Stelle. Und da tut es nichts, dass in München, London und auch Wien künstlerische Wechsel bereits beschlossen sind oder anstehen. Und auch die eingesetzten Sänger sind hochlöblich, aber es wird nichts riskiert, kaum spektakuläre Debüts sind zu vermelden.
In München gar, wo Nikolaus Bachler noch bis 2021 aussitzt und Kirill Petrenko im Sommer 2020 endgültig zu den Berliner Philharmonikern wechseln wird, zelebriert man jetzt schon Abschiedsstimmung. Soll sich das jetzt drei Jahre so hinziehen? Und bereits heute wird über Petrenkos letzte „Ring“-Zyklen geseufzt. Geht’s noch? Er ist jetzt gerade mal das vierte Jahr im Amt, hat bis jetzt hier gerade mal neun Premieren dirigiert, es kommt noch „Tannhäuser“ hinzu; diese Spielzeit dirigiert er zudem fünf weitere Werke. Man möchte jetzt nicht unbedingt Wolfgang Sawallisch bemühen, aber es ist schon erstaunlich, mit wie vergleichsweise wenigen Stücken man heute schon als scheinbar unersetzbarer Heilsbringer gilt.
Nächstes Jahr kommen für Petrenko Puccinis „Trittico“ und der „Parsifal“ hinzu – letzterer erstmals als Festspielpremiere für den GMD…. Im Mozart-Repertoire wird der kärgliche Dieter-Dorn-„Figaro“ unnötigerweise durch einen sicher ähnlich aufgeräumten von Christof Loy ersetzt, der das Stück schon mehrmals inszeniert hat. Constantinos Carydis dirigiert eine bis auf den in München wohnenden Christian Gerhaher Normalo-Besetzung. Den Puccini-Dreiteiler inszeniert die gerade international Furor machende Niederländerin Lotte de Beer mit Wolfgang Koch, Eva-Maria Westbroek und Ambrogio Maestri.
Dann folgt bereits die nächste Verdi-Oper, immerhin die über 50 Jahre in München nicht mehr gezeigte „Les Vêpres siciliennes“ in der französischen Originalfassung. Der hier überaus geschätzte Omer Meir Wellber steht am Pult und der Opernnovize Antù Romero Nunes, der schon im missratenen, kaum gespielten „Guillaume Tell“ bewiesen hat, dass er mit der chorlastigen, historiegesättigten Grand Opéra nicht sonderlich gut umgehen kann, darf wieder ran. Es singen (wie auch in der Londoner Wiederaufnahme der Herheim-Produktion) Bryan Hymel und Erwin Schrott.
Frank Castorf inszeniert an der Staatsoper, das hatte er selbst schon erzählt. Janáčeks trostloses, aber dramaturgisch offenes „Aus einem Totenhaus“ mit Simone Young im Graben, dürfte für ihn freilich keine große Herausforderung sein (mit Peter Rose, Charles Workman, Bo Skovhus). Dann folgt der „Parsifal“ für den man den braven Arrangeur Pierre Audi als Regisseur ausgesucht hat, der um „drei Vorhänge und einen Hintergrund“ von Georg Baselitz herumdekorieren darf. René Pape, Nina Stemme und der ebenfalls in München beheimatete Jonas Kaufmann, dem die kurze, tiefliegende Partie sicher gut tut, verraten wenig Besetzungsfantasie, aber eine gut gefüllte Sängerkasse. Interessant werden wird freilich, wie sich die Baselitz-Bildwelten zum kaum einen Monat später in Bayreuth herauskommenden „Lohengrin“ verhalten werden, den Neo Rauch ausstattet. Und wie man von dort hört, mit weit mehr Engagement als nur für ein paar Vorhänge.
Joseph Haydns „Orlando Paladino“ als zweite Festspielpremiere im Prinzregententheater (Team: Ivor Bolton, Axel Ranisch) beschließt den soliden Münchner Novitätenreigen. Ausgerechnet der so sich so progressiv dünkende Bachler hat beim Bayerischen Staatsballett mit dem russischen Diktator Igor Zelensky zum konservativen Rollback aufgerufen. Das scheint den Münchnern zu gefallen, bedenkt man die Publikumsreaktionen auf den Stalinismus-Schinken „Spartakus“ und eben auf den teuren englischen Import „Alice in Wonderland“ als familienkompatibles Ausstattungsspektakel.
Aus dem Gegenwartsdiskurs hat sich das Ballett, wie vielerorts, verabschiedet. L’Art pour l’Art herrscht stattdessen – wenn überhaupt. Und auch nächstes Jahr ist aus München nichts wirklich Aufregendes zu erwarten. Man feiert eher pflichtschuldig John Crancos 90. Geburtstag. Aus dem nahen Zürich importiert man die anämische Tolstoi-Vertanzung „Anna Karenina“ des faden Christian Spuck, und ein dreiteiliges „Portrait Wayne McGregor“ soll immerhin eine Uraufführung des gewohnt stromlinienförmigen Briten erwarten lassen, der auch in London als Berater im Spielplan des Royal Ballet kräftig mitmischt.
Bleiben wir beim Ballett an der Themse. Da erinnert man anlässlich seines 25. Todestags an den bedeutenden Choreografen Kenneth MacMillan und alle fünf britischen Balletttruppen – Royal Ballet, Birmingham Royal Ballet, English National Ballet, Northern Ballet und Scottish Ballet – werden seine Werke in Covent Garden tanzen. Eine Tripple Bill bringt zwei Uraufführungen von Twyla Tharp und Arthur Pita, eine weiterer, dem 100. Geburtstag von Leonard Bernstein gewidmeter Dreiteiler kündigt Novitäten von Wayne McGregor und Christopher Wheeldon an. Liam Scarlett, der dritte Associate Choreographer am Haus, wird im neuen „Schwanensee“ die Lesart von Marius Petipa und Lev Ivanov ergänzen. John MacFarlane wird einmal mehr ausstatten.
Ja, das Royal Ballet köchelt luxuriös im eigenen Saft. Nicht anders die Royal Opera, wo der neue künstlerische Leiter Oliver Mears die Premierensuppe auslöffeln darf, die ihm noch Kaspar Holten eingebrockt hat. Mit „La Bohème“, „Carmen“ und „Lohengrin“ decken drei von sechs Premieren Standardrepertoire ab. Den Puccini dirigiert Musikchef Antonio Pappano, Richard Jones (hat das Werk schon in Bregenz inszeniert) führt Regie. Aus München kommt Rossinis „Semiramis“ in der platten David-Alden-Regie, ähnlicher Cast und ebenfalls Pappano am Pult. Er folgt Barrie Koskys revuehafte „Carmen“ aus Frankfurt, die Jakub Hrůša musikalisch leitet. Und auch London setzt auf Leoš Janáčeks „Totenhaus“, freilich mit dem weit spektakuläreren Team Krzysztof Warlikowski/Teodor Currentzis. Willard W. White, Štefan Margita, Ladislav Elgr, Johan Reuter, Alexander Vassiliev und Graham Clark sind in der starken Cast.
Die von mehreren Häusern gestemmte und teuer bezahlte Uraufführung „Lessons in Love and Violence“ versammelt das Erfolgsquartett aus „Written on Skin“, Komponist und Dirigent George Benjamin, Librettist Martin Crimp, Regisseurin Katie Mitchell und Hauptdarstellerin Barbara Hannigan. Auch Stéphane Degout ist dabei. Lohengrin schließlich stemmen neuerlich der Routinier David Alden, Andris Nelsons holt man wieder die Partitur hervor, seine Frau Kristine Opolais darf die Elsa singen, Klaus Florian Vogt ist der obligatorischen Schwanenritter. Immerhin sind als Kollaborationen mit anderen Häusern noch kleinere Uraufführungen von Mark-Anthony Turnage („Coraline“), Na’ama Zisser und Tansy Davies angekündigt.
Neues gibt es weder in München noch in Wien, wo Direktor Dominique Meyer wenigstens für seine letzten zwei Spielzeiten auf die angekündigte Olga-Neuwirth-Oper „Orlando“ nach Virginia Woolf hofft. Ok, man hat mit 54 Opern wieder konkurrenzlos viele Werke im Spielplan, aber um wesentliches Ungewöhnliches werden die allzu selten bereichert. Man startet immerhin mit Sergej Prokofjews „Der Spieler“, auch dort steht die postenlose Simone Young am Pult, als Regisseurin hat sie sich die eigentlich schon abgeschriebene Karoline Gruber erwählt, die sie auch in ihrer Hamburger Zeit beschäftigt hat. Es folgt Bergs „Lulu“ mit Ingo Metzmacher am Pult, eigentlich nur eine halbe Premiere, denn Willy Decker wird seine 2000 aus Paris übernommene zweiaktige Fassung um den dritten Cerha-Akt erweitern.
Wenn die Philharmoniker auf Reisen sind, dürfen sich in der Staatsoper immer öfter Barockorchester produzieren, diesmal William Christie mit seinen Les Arts florissants in Händels „Ariodante“ die der hier vielbeschäftigte Edelarrangeur David McVicar mit einer nicht weiter aufhorchen lassenden Besetzung besorgt. Schlechtes Timing, nachdem damit gerade die Salzburger Pfingst- und Sommerfestspiele mit Cecilia Bartoli und eine reisenden Konzertproduktion mit Joyce DiDonato prunken. Als Lokalmatador wird Gottfried von Einem gefeiert dessen Büchner-Vertonung „Dantons Tod“ von Josef Ernst Köpplinger für Wolfgang Koch in der Titelrolle exhumiert wird; Susanna Mälkki steht am Pult.
Sängerfreunde kommen immerhin auf ihre Kosten, wenn in Camille Saint-Saens’ „Samson et Dalila“ unter der Leitung von Marco Armiliato erstmals szenisch Elina Garanca, Roberto Alagna an die Haare gehen wird. Regie führt Alexandra Liedtke, Ehefrau von Ex-Burgtheaterchef Matthias Hartmann. Und für einen neuen, von Tomas Netopil dirigierten „Freischütz“, sicher eine der kompliziertesten Inszenierungsaufgaben überhaut, hat sich Meyer, den Edelregieassistenten Christian Räth ausgesucht; der wird garantiert nix wagen. Immerhin verhilft der Andreas Schager, Österreichs einzigem Heldentenor, zum arg verspäteten Staatsopern-Debüt. Als Kinderoper spielt man ausgerechnet die bereits in Wien vorgestellte „Cinderella“ nach, die seltsam rückwärtsgewandte Oper der erst elfjährigen Alma Deutscher. Und auch das von Manuel Legris geleitete Staatsopernballett kommt nicht aus der Reserve. Die Truppe mag zwar stilistisch fit sein, aber präsentiert lediglich gut Abgehangenes von MacMillan, McGregor, Ashton und Edward Clugs „Peer Gynt“.
Der Beitrag Mäßig spannend: die neue Opernsaison in München, Wien und London erschien zuerst auf Brugs Klassiker.