Viel Deutungsgewese, Konzeptgedöns und Interpretationsgeschwurbel ist bei Wagner oder Verdi leicht. So richtig schwer wird es aber, wenn es um diese verdammt wasserdichten, quellklaren und eigentlich einfachen Werke des Musiktheaters geht, die scheinbar von selbst ablaufen, sich wunderbar erklären, zeitlos gültig und perfekt scheinen. Wie „Die Hochzeit des Figaro“, „Der Rosenkavalier“, „Tosca“, „Eugen Onegin“, „Lady Macbeth“ oder „Wozzeck“. So eine simple, ökonomische, ganz auf zwei Protagonisten zurechtgeruckelte Oper ist auch Jules Massenets „Werther“, lange als französisches Goethe-Baiser weggelächelt, längst ein Schmuckstück des Repertoires: parfümiert, aber wahrhaftig, nach dem sich lyrische Tenöre wie Mezzosoprane die Finger lecken. Und das jetzt Tatjana Gürbaca, die sich offenbar nun wirklich als Regisseurin gefunden und die momentan einen echt guten Lauf hat, ganz großartig klug, neu, intensiv und konzentriert in Zürich inszenierte.
Der Abend ist aber, ähnlich wie dort in der letzten Saison der „Macbeth“ deshalb so gut, weil hier von der ersten Klangsekunde an alles stimmt: die Ausstattung, die Sänger, der bestimmende Dirigent und das motivierte Orchester. Von damals ist Klaus Grünberg wieder dabei. Hatte er für Verdi eine offene, düstere Bühne konzipiert, so ist jetzt alles hell, ja grell ausgeleuchtet und fokussiert in einer engen, trotzdem perspektivisch verkürzten, unregelmäßig gerahmten Zimmerschachtel. Dieses besteht nur aus Türen, Klappen, Laden und einer Faltwand, hinter eine Heimorgel wartet. Ein Furniermonster, selbst die Decke ist getäfelt. Es ist fast leer, ein paar Bücher gibt es, einen trockenen Zweig und rechts eine dominante Uhr, deren in einem Kasten beleuchtetes Pendel unnachgiebig bedeutungsvoll die Zeit verrinnen lässt.
Eine Spießerfamilie feiert. Papa (Cheyne Davidson), viele Kinder, eines im Rollstuhl, alle von Silke Willrett in dezentem Seventies-Look hell gekleidet, von enervierend guter Laune. Die zugekastelte, ihre Geheimnisse unterschlagende Schweiz als Amtsmannidyll in Wetzlar? Man kann nicht wegschauen, und auch Cornelius Meister lässt uns schon im Vorspiel die Akkorde entgegenknallen, das Klanggeschehen dramatisch sich verdüstern.
Von außen nämlich schleicht sich rückwärts ein dunkel gekleideter Mann herein, Werther, in Gestalt des Startenors Juan Diego Flórez, der sich unbedingt einordnet in die eher namenlose, aber hervorragende Restbesetzung. Was hier ein Vorteil ist: Denn die geliebte Charlotte, die wirkt so noch stärker als Projektion eines rettungslosen Romantikers, der einfach nicht begreifen will, dass diese prosaische Umgebung für ihn so gar kein Verständnis hat. Und der sie immer wieder mitzieht in seine schwärmerischen Bekenntnisse, der den Alltag eingefrieren, aus den Kisten glitzernde Ballgäste in schönstem Licht entsteigen lässt.
Tatjana Gürbaca arbeitet das ganz einfach, aber schlagkräftig, subtil, doch unübersehbar heraus. Diese beiden können gar nicht zusammenkommen, obwohl Werthers unbedingte Leidenschaft und Fixiertheit, die auch den ab dem zweiten Akt bariton-mürrischen, männlichen Albert (Audun Inversen) als Charlottes legitimen Ehemann einfach negiert, seine Angebetete doch aus ihrer Reserve lockt: Da ist was! Diese brav funktionierende Ersatzfrau ihres verwitweten Vaters, die sich um die Kinder kümmert bis hin zur frühreif ihren Liebesträumen hinterherblinzelnden Schwester Sophie (freches Früchtchen: Mélissa Petit), die hat doch einen Unterleib und ein loderndes Herz.
Toll, wie sich diese Emotionsexplosion in Gestalt zerstampfter und zerquetschter Christbaumkugeln Bahn bricht: Charlotte qualmt, endlich entspannt, und das Saxophon klagt dazu. Dem großen Liebesduett, hier fast märchenhaft idealisiert durch aus den Laden und Türen zu ziehenden Silbergeschenkbänder, die Werther umschlingen, steht nichts mehr im Weg. Doch den letzten, entscheidenden Schritt vom Weg traut sich die gutbürgerliche Charlotte der hell timbrierten, langsam vokale Fahrt aufnehmenden Anna Stéphany einfach nicht. Lieber schaut sie zu, wie sich Werther den – natürlich – neben dem Uhrpendel aufbewahrte Revolver Alberts für „eine lange Reise“ bringen lässt.
Der letzte Akt, der sich zu Tode singende, von der fernen Geliebten gefundene Protagonist samt dem ein wenig sentimental-unglaubwürdigen, aber natürlich honigsüßen Herzschmerz-Sterbeduett, er ist nur noch surreales Tableau, eine stringent aus dem Vorhergegangenen entwickelte Vision. War Werther überhaupt von dieser Opernwelt? Spätestens am Ende des dritten Aktes hatte er sich aus jeder Realität verabschiedet. Jetzt stapft ihm Charlotte während der bohrenden Verwandlungsmusik in seinem Mantel gehüllt und auf der Stelle tretend durch eine Negativprojektion des Einheitsraumes hinterher. Der ist, hebt sich wieder der Vorhang, nun völlig hermetisch und leer. Gleich aber fällt Werther durch die Tür herein, blutüberstömt, steht auf und singt unverdrossen bis zum bitteren Schluss.
Ein altes Pärchen sitzt händchenhaltend hinten den beiden, Philemon und Baucis, das Goldene Hochzeit feiernde Pfarrerspaar aus dem zweiten Akt, mit Indianerfedern und Glitzerkrone, Requisiten des Anfangs. Und endlich weitet sich der Raum, die Schranktüren fliegen auf, dahinter fallen nach den Schneeflocken nun die Sterne durch das All, an kosmischen Nebeln wirbelt die Erde vorbei. „Werther“, der utopische Fiebertraum, eines wahnsinnig Liebenden, das bricht sich apart mit Massenet köstlichem Melodiegeträufel, dem Cornelius Meister die Kalorien entzieht, dessen Konturen er schärft, das er zum kammermusikalisch vorantreibenden, trostlos nach Harmonien suchenden Klangstrom formt.
Und dieser von allen getragene Abend bündelt sich doch in einem, der Titelfigur. Juan Diego Flórez gestaltet den gleichzeitig heutig und entrückt, als Prototyp und Individuum. Ob er nun einen gekreuzigten Christus ansingt, sich schon mal probeweise in sein kühles Grab unter dem Bohlenboden legt oder sein weibliches Idol wenigsten einen, den einzigen Kuss aufdrückt, er ist der Tenor, der sich verströmt und kein Zuhause hat. Am Schluss kann er nur scheitern. Obwohl er vokal auf ganzer Linie siegt. Nach dem ersten, konzertanten Ausprobieren vor einem Jahr in Paris und einem szenischen Versuch in Bologna, ist er in der Rolle sicherer geworden. Er traut sich ein scharfes Forte, folgt damit Meisters starker Dynamikbewegung, die Stimme ist aber nach wie vor von melancholisch feiner Süße. Nie stellt er Töne aus, da ist ein Sänger vollkommen in seiner Rolle aufgegangen und gefangen. Große Klasse in der tollen Kiste, wunderbar!
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