Über 2000 Jahre alt ist diese Liedersammlung, seither hat das Hohelied Salomos, das „shir-ha-shirim“ die Menschen fasziniert, die Künstler ebenso, Literaten, wie Filmemacher, Maler, Bildhauer und Komponisten. Auch Matthias Pintscher hat immer wieder darauf zurückgegriffen, etwa in seinem Zyklus „Songs from Solomon’s garden“ sowie im fünften Gesang in „she-cholat ahavah ani“ (Wie liebeskrank ich bin) für gemischten Chor a cappella. Er selbst ist inzwischen zum Judentum konvertiert und so suchte er sich auch wieder einen Text aus diesem berühmten Konvolut, als der Hamburger Nikolaus Broschek eine Uraufführung von ihm für die Elbphilharmonie bezahlen wollte. Das war 2007, aber es dauerte dann doch ein bisschen. Zehn Jahre und viele Baumillionen später war es jetzt so weit. Und – Komponisten sind eben so – natürlich ist „Shirim“ eine halbstündige Gesangsszene für Bariton und Orchester über das 1. und 2. Kapitel dieser biblischen Liebesmeditation, sehr spät fertig geworden. Denn erst kürzlich kam noch Pintschers zweites Cellokonzert heraus. Nach einem Gedicht von Octavio Paz, „Un despertar“ (Ein Erwachen) für Alisa Weilerstein erstellt, wurde es am 23. März mit dem Boston Sympony Orchestra uraufgeführt.
Für das NDR Elbphilharmonie Orchester ist jetzt ein riesiges Instrumentarium in Herzog & De Meurons graumattierter Konzertsaal-Schüssel aufgebaut, vor allem viel Schlagwerk steht in der letzten Reihe. Doch Matthias Pintscher nutzt das alles nur partiell, selten kommt das ganze Orchester zum Einsatz, und sehr laut wird es auch nicht. „Shirim“ folgt ganz dem melodiösen Puls des Hebräischen, man muss unbedingt mitlesen (was leider die wenigsten taten), sonst stellt sich wohlmöglich der Eindruck von Monotonie ein. Bo Skovhus kann seinen immer noch weichen Bariton in vielen Parlando-Nuancen verströmen lassen, mal scheint er den Worten nachzusinnen, mal scheint er Emotionen zu antizipieren. Das Orchester flüstert, wispert, nach den ersten Tuttiakkorden fallen Streicherlinien wie Sternenstaub herab. Oft sind es einzelne Instrumente, die Konzertmeistergeige, die Oboe, die den Text aufgreifen, umspielen, weiterspinnen, selten sind orchestrale Interludien, der Text schreitet stetig, aber gelassen voran.
So entsteht schnell der Eindruck einer erzählerischen Meditation, ein reifer Mann, der gleichzeitig die Rollen von Liebendem und Geliebter spricht – aber spielt das überhaupt eine Rolle? – reflektiert, abgeklärt, nur selten in sich steigernder Leidenschaft. Zart und leuchtend ist das, die Stimme schwebt über dem sanft brodelnden Instrumentalfluss scheint über die verschiedenen Saalstockwerke zu mäandern. Wenn von Zicklein die Rede ist, beginnt die Musik zu trippeln, „Deine Wangen sind lieblich mit den Ketten, dein Hals mit den Perlenschnüren“ wird von der Harfe begleitet. Wird das „Liebeslager“ erwähnt, erhebt sich die Solovioline, der „tiefe Keller“ spiegelt sich in den Hörnern wieder. Werden die Füchse im Weinberg beschrieben, hat die Oboe zu tun, bei der „Lotosblüte“ kommt die Flöte zum Einsatz.
Matthias Pintscher zeigt sich hier auf der Höhe seines instrumentalen Könnens, reduziert, minimalisiert den Ausdruck auf ein Flüstern, langsames Auskosten des Sprachflusses, lässt sich bisweilen von ihm davontragen und verschwebt am Ende. Die Komfortzone verlässt das archaisch einfache und doch raffinierte „Shirim“ nie, aber es ist ein atmosphärisch dichtes Vokalstück geworden. Christoph Eschenbach dirigiert das mit der Abgeklärtheit des mit Pintschers Musik lang Vertrauten, mit aufmerksam-knapper Bewegung. Es folgt (aber eben keineswegs als einziges Stück wie das der Programmheft-Titel dreist populistisch verkürzend behauptet) Mahlers 6. Sinfonie die das Elphilharmonie Orchester herausfordert, aber eben auch wieder klar an Grenzen bringt (vor allem in den Bläsern).
85 dunkle, melancholische Minuten, von Eschenbach bohrend, aber auch mit sachter Hand entfaltet. Ein langer, ein erhebender Abend, bei dem der Saal für mein Empfinden wieder zu überakustisch grell klingt, die Musik sofort da ist, die Streicher überbetont werden. Und: ich finde die Beleuchtung viel zu hell. Es ist kaum ein Unterschied zum Podium, man sieht seine Gegenüber viel zu stark, wird abgelenkt, die Konzentration auf das Musikmachen in der Mitte leidet.
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