Vier Jahre haben wir darauf gewartet, gekämpft, Petitionen geschickt, gebetet, gehofft, gebarmt, geweint. Endlich hat der Klassikgott ein Einsehen gehabt und die gegenerischen Exzellenzparteien zum terminlichen Umdenken gebracht: Schon letztes Jahr haben sich die seit 2013 gespaltenen und konkurrienden Festspiele an der Oos und an der Salzach entzerrt, dieses Jahr macht die Sause an der Spree das Schlusslicht, und wir Melo-Junkies können endlich an einem Mammutwochenende alle drei österlichen Festivals-de-luxe abklappern. Müssen die aber überhaupt sein? Oder sind es überteuerte Jahrmärkte der Dirigenten-Eitelkeiten, Goldkehlen-Nichtigkeiten und Regisseur-Absurditären? Wir machen den Restauranttest, schmecken Rezepte und Menüs ab, sind dann mal weg auf kilometerreicher Pilgerreise zu Sir Simon Rattle samt Berliner Philharmonikern in Baden-Baden, Christian Thielemann und Dresdner Staatskapelle in Salzburg sowie Zubin Mehta (Daniel Barenboim macht dieses Jahr osternopernfrei) mit der Berliner Staatskapelle in der Hauptstadt. Drei Tage, „Tosca“, „Walküre“, „Frau ohne Schatten“ – eine Passion der anderen Kunstart.
Die Anreise
Bequem, am schlimmsten war die Kälte am Hamburger Hauptbahnhof, weil der ICE 75 bereits „wegen verspäteter Bereitstellung des Zuges im Bahnhof Altona“ am Ende 55 Minuten Verspätung hatte. Zwar besitzt der moderne Pilger Lounge-Zugang, aber der lohnte sich wegen der zögerlich einträufelnden Wasserstandsmeldungen nicht wirklich. Was uns auch wieder über die Verspätungsmeldungen der Bahn-App nachsinnen ließ: Die kommt grundsätzlich immer nur in Echtzeit, dann wenn es auch die Anzeigentafel verkündet; da ist selbst Easyjet besser! Aber wir wollen nicht meckern: fünf Stunden umsteigelos durch deutsche Lande bis Baden-Baden flitzen ist kommod.
Die Festspielstadt
Die Pressemeldungen jagen sich: Baden-Baden in Nachtblau! 38.000 Pflanzen schmücken die Stadt zu den Osterfestspielen. Hätten wir gar nicht bemerkt, denn schon auf dem prosaischen Busweg (eine im Zug getroffene Kollegin bevorzugte trotz Riesenrucksack ihr Klappfahrrad) vom Bahnhof zum alten Bahnhof (aka Festspielhaus) blühte es prachtvoll rosa, weiß und gelb. Am Theatereingang stehen ebenfalls rosablühende Säulenzierkirschen und vor allen weiteren Veranstaltungsorten Forsythien in Osterfestspiel-Blumenkübeln. Hier sind die Leute echt generös: „Danke schön!“ steht als Plakette für fünf Jahre Anwesenheit der Berliner Philharmoniker beim Bäcker und beim Metzger im Schaufenster – so wie zu seligen Karajan-Zeiten in der Salzburger Getreidegasse. Die Musiker müssen freilich auch kräftig partizipieren und posieren. Das fleißige Gartenamt hat mit Musiktexten bedruckten „Blumentaschen“ aufstellen. Und natürlich nur mit Gewächsen, die zu einem Farbschema ausgewählt werden. „E lucevan le stelle“ („Und es leuchteten die Sterne“) singt in Tosca der Maler Mario Cavaradossi und passend dazu werden sind in Farben wie „Sterngelb“ und „Nachtblau“ Goldlack, Vergissmeinnicht und Hornveilchen zusammen mit Stiefmütterchen, Bellis, Tulpen und Ranunkeln zu sehen sein. Und im Rahmen des Begrüßungsfestes empfing selbstredend die Ortenauer Weinprinzessin Hanna Mußler samt einer Ladung Einheimischer die Berliner Philharmoniker und deren Angehörige mit viel badischem Gluckgluck in ihrer Osterresidenz. Das wollen wir in Berlin zum Saisonauftakt künftig auch!
Das Theater
Es ist, was es ist. Ein hübsch historistischer Sandsteinbahnhof mit überdimensionierter Investoren-Betonkiste dahinter. Seit 1998 im Kulturdienst, nach der schon kurz vor der Pleite. Unsubventioniert, aber mit Mietzuschüssen von Stadt und Land garniert (was sich bis 2020 auf 200 Millionen Euro summieren soll). Nicht wirklich schön, aber praktisch, innen kastig und prosaisch – bis auf die berühmte, rotbeteppichte Wendeltreppe an der schwarzen Marmorsäule, wo es zum Gratishäppchen bereithaltenden Club300 der Sponsoren geht.
Die Besucher
Wirklich, wie Simon Rattle schon ankündigte, ein guter Querschnitt, Reiche, Neureiche und Normalos, die sich was gönnen. Draußen fetzen sich lautstark Mitglieder des Club300 und des Clubs der Unternehmer um den letzten Autostellplatz. Überschaubare Limousinen-Anhäufung. Auch die Smoking-Dichte ist gering, lange Roben sind eher verpönt. Schick und schräg hält sich die gutbürgerliche Waage. Die erdrückende Majorität spricht Deutsch in distinguierten Dialekten. Das geht dann so: „Wir kommen extra aus dem Rheinland und lieben Puccini sehr. Aber „Tosca“ ist neu für uns, die sehen wir zum ersten Mal“ – „Doch, die hatten wir schon.“ – „Kennen Sie die Frau Gorgu?“ – Die ist doch so berühmt wie die Netrebko, nicht?“ – Ja, singt die heute?“ – Weiß ich nicht, ich muss mich noch mit der Besetzung vertraut machen.“ Promis sind gar nicht auszumachen. Dafür haben sich die künftigen Baden-Baden-Ostermacher unauffällig im Haus verteilt. Der baumlange Benedikt Stampa, der im Sommer 2019 Andreas Möhlich-Zebhauser ablösen wird, sitzt im Rang, im Parkett haben es sich Kirill Petrenko und Andrea Zietzschmann, ab 2020 bzw. 2018 Chefdirigent und Intendantin der Berliner Philharmoniker gemütlich gemacht.
Die Inszenierung
Nicht Traditionsfisch noch Avantgardefleisch. Der hier geschätzte, weil wohl unkomplizierte Philipp Himmelmann hat den Puccini-Reißer bereits vor zehn Jahren plakativ für die Bregenzer Seefestspiele inszeniert, das 50 x 25 Meter große Riesenauge wurde für das ZDF-EM-Studio sowie den James-Bond-Film „Ein Quantum Trost“ zwischengenutzt– was viel mehr Sinn machte. Diesmal gibt es keinen Eyecatcher, Bühnenbildner Raimund Bauer, auch Baden-Baden gestählt, hat eine graue Kirchenmauer hingestellt, wo (als Erinnerung an das Bodensee-Auge?) beim Te Deum ein Rundfenster bedrohlich neonweiß leuchtet. Es folgt ein videoüberwachtes, halbrund kahles Chefbüro in ebenfalls Stahlgrau. Wer dann wenigstens auf Morgenstimmung über Rom hoffte, sah sich getäuscht: Eine weitere graue Wand geht hernieder, vor der sich die beiden Protagonisten ansingen ohne sich wirklich näherzukommen.
Cavaradossi wird ohne Soldaten und Gewehre von Spoletta (Peter Tantsis) mit dem Bolzenschussgerät erledigt, Tosca springt nicht, sondern richtet sich umständlich selbst mit demselben Gerät. Das ist der eine Regieeinfall. Der zweite besteht daraus, dass der Mesner (ein luxuriöser Peter Rose), nicht nur im ersten Akt einem Knaben das Beten beibringt, sondern als der (Philippe Tsouli) im Vorspiel zum dritten Akt auch den Hirten singt, offenbart er ihm neuerlich erscheinend offenbar ganz andere Gefühle. Was wohl dessen Text „Dass sie, um die mein Herz verschmachtet, mich so verachtet, das ist mein Tod“ in einem ganz anderen, nicht unbedingt stimmigen Morgenlicht erscheinen lassen soll. Und die dritte Himmelmann-Idee lässt die Chormasse am Ende des ersten Aktes (der ordentliche Philharmonia Chor Wien) als Scarpia-Klone mit fahl leuchtendem Ringsymbol am Revers auftreten. Was uns aber wenig Angst macht.
Der Rest ist passend graue Konvention. Man wünscht sich die Handschellen des Angelotti (der beste Sänger des Abends: der bassscharze Alexander Tsymbalyuk), um den armerudernden Cavardossi zu fixieren. Tosca, die im roten Hosenanzug (der Farbe bleibt sie treu), mit Birkin Bag und Wallehaar aussieht wie eine Angela-Gheorghiu (vulgo: Gorgu)-Kopie ist eine narzisstische Diva, die selbst eifersüchtig für den ebenso selbstreferenziellen Maler-Geliebten posiert. Sie beide brauchen einander nur für ihre Kunst, sonst sind sie sich schnuppe. Sie nestelt enervierend nervös im Haar und am Kleid, er stellt sich an die Rampe und schmettert.
Sein Maddalena-Bild: eine komplexe Konstruktion aus fotogeschopptem Computer-Bild, die er mittels Projektor auf eine Leinwand am Boden paust. Weil die aber im Parkett keiner sehen kann, wird die Vorlage zusätzlich an die zünftige Stelle über der Eingangstür projiziert. Wie überhaupt der große Bildschirm-Bruder viel zuschaut, und auch die Folterung im zweiten Akt für Tosca auf den Labtop übertragen wird. Am Ende hagelt es viel Buh dafür.
Die Sänger
Nicht wirklich festspiel- und 350-Euro-spitzenpreiswürdig. Kristine Opolais, die die Rolle zuletzt 2013 in London gesungen hat, in der Titelrolle klingt frühverbraucht, wie die späte Tebaldi, aber ohne deren Timbre. Eine kleine, metallische Stimme ohne Charisma, als sonst selbstbewusste Darstellerin irrt sie diesmal verloren über die karge Bühne. Marcelo Álvarez als Cavaradossi vom Dienst hört man seine über 150 Aufführungen an, er schlägt sich mit stumpfer Höhe routiniert und wacker. Eine totale Enttäuschung ist Evgeny Nikitin, als jüngerer, dickerer, blonder Bruder von Karl Lagerfeld. Was aus diesem einst bannenden Holländer geworden? Da gefriert kein Blut, wenn er möchtergern-mafios den Kirchenfrieden stört, sein viel zu heller Bassbariton hat nichts Faunisches, Verführerisches, Geiles. So bleibt der ganze zweite Akt nur Behauptung. Tosca will es wohl zu Ende bringen und sticht nicht im Affekt, sondern gleich zweimal aus Vorsatz zu.
Das Dirigat
Viel zu langsam! Offenbar steckt dem herrlich, aber auch total undramatisch spielenden Orchester noch die 1980er-Karajan-Aufnahme in der DNA. Die haben wir im Zug gehört und uns gewundert, dass ein gewiefter Opernmann hier so poliert fade aufspielen lässt. Simon Rattle, der sich zwar als liebendes Puccini-Küken geoutet hat, überbietet das noch. Wir hören eine „Tosca“-Sinfonie, aber keinen billigen, reuelos genossenen Trivial-Thriller. Rattle schaut niemals zu den Sängern ist ganz mit seinen Berlinern beschäftigt, schwelgt und schleppt.
Fazit
Es wird gejubelt und gebuht, beides in maßen. Man spürt hier dauernd: Oper ist nicht Baden-Badens und der Berliner Philharmoniker Hauptgeschäft. Himmelmann darf trotzdem im Herbst schon wieder mit einer „La Bohème“ unter Teodor Currentzis ran, die dann nach Perm weiterwandert. Nächstes Jahr machen die Berliner und Rattle „Parsifal“. Den kann und kennt er. Altmeister Dieter Dorn wird regielich niemanden stören. 2020 wird dann an Ostern erstmals Kirill Petrenko am Pult stehen. Und 2019, das lesen Sie hier zuerst, wird Daniele Gatti aushelfen. Auf geht’s gen Salzburg wo man nächste Jahr – genau – „Tosca“ mit Anja Harteros spielen wird. Osterfestspiele sind sehr vorhersehbar.
Der Beitrag On the Festspiel-Road: Baden-Baden erschien zuerst auf Brugs Klassiker.