Sie ist blond (im echten Sopranistinnenleben schwarz) und sieht mit dieser Frisur aus wie eine apparte Mischung aus einer sonnenbrillenlosen Anna Wintour und der jungen Hanna Schwarz: Aida Garifullina, die schönste russische, besser: tartarische Sängerinnenentdeckung seit Anna Netrebko. Nach einigen arbeitsreichen Ensemblejahre in Wien ist sie nun auf der freien Wildbahn und ihre erste große Premiere sang sie – danke dem Besetzungsdirektor Ilias („ich bin nur ein kleiner Grieche“) Tzempetonidis – an der Opéra de Bastille: die rauchweiche Titelrolle in Nikolaj Rimsky-Korsakows zartschmelzendem „Schneemädchen“. In Russland ist das ein populäres Märchen, bei uns kennt man diese immerhin fast vier Stunden lange Oper so gut wie gar nicht.
Es geht um die zerlaufende Tochter von Väterchen Frost und der Frühlingsfee, die, ähnlich wie Dvoraks Waldnixe Rusalka, sich nach den Menschen verzehrt, nach gleich zwei, die sie beide nicht wollen. Dmitri Tcherniakov hat dies an der Opéra Bastille als hinreißend nostalgischer Frühlingnachtstraum in einem hyperrealistischen Wald inszeniert. Eine Hippiekommune träumt da ihre Vision von einem putinlos idealen Wohnwagenleben im Grünen in altrussischer Tracht – Sehnsucht auch des Regisseurs? Dabei von einem ätzenden Sarkasmus unterfüttert. Herrlich gesungen, von Mikhail Tatarnikov idiomatisch kompetent dirigiert. Lecker das.
Aida Garifullina. Doch, so heißt wirklich eine Opernsängerin. Superschank, superschön, superstimmig. Ein Vokalmodel, der Traum jedes Plattenproduzenten. Die zarteste Sopranistin seit es Stimmschmelz gibt. Vor der jede Magenverkleinerungsschnur sofort Reißaus nimmt. Kirschenmund, dunkle, leicht mandelförmige Augen, puppenhaft zarte Figur. Aber keine Töne spuckender Automat, genauso wenig ein Schmusekätzchen. Die hat Temperament, weiß zu locken und zu verführen, kuschelt und teilt aus. Und kratzen kann sie auch. Wenn es nicht nach ihrem Willen geht.
Aida also. Kein Künstlername, die Mutter wusste natürlich schon nach der Geburt, diese Tochter muss Opernsängerin werden. Diese ereignete sich am 30. September 1987 in Kasan, damals noch Sowjetrepublik Tatarstan, heute einigermaßen autonom. Die Frau Mama ist Chordirigentin, da kam die Musik schon durch die Muttermilch. Und mag in der Ex-UdSSR vieles im Argen liegen, das Klassik-Exzellenzsystem funktioniert bis heute. Mit fünf Jahren nahm das damals schon aparte Mädchen in Moskau an einem im Fernsehen übertragenen Wettbewerb teil. Mit 11 erhielt sie am Konservatorium ihrer Heimatstadt Gesangsunterricht, mit 13 gewann sie den nächsten Contest.
Mit 16 Jahren kam Aida Garifullina dann zum ersten Mal in ihrer Schicksalsstadt, nach Wien, um an der Meisterklasse von Siegfried Jerusalem teilzunehmen. Nach ihrem Abschluss folgte sie ihm 2005 nach Nürnberg, wo der Ex-Wagner-Recke die Hochschule leitet. Zwei Jahre später wechselte sie zurück nach Wien. Aida war immer eine ganz Schnelle, denn das Gesamtpaket stimmte einfach optimal: 2011 machte sie ihren Abschluss, ein Jahr später sang sie erstmals in der Arena di Verona. Natürlich hatte auch Russland Wind bekommen von dem Rohdiamanten, der da im Ausland brillantgeschliffen wurde. Im Januar 2013 debütierte sie auf Einladung von Valery Gergiev am St. Petersburger Mariinski Theater als Susanna und brachte nicht nur in ihrer Arie die Rosen zum erblühen. Im August 2013 belegte Garifullina den ersten Platz bei Plácido Domingos renommiertem und dementsprechend vielbeachtetem Operalia-Gesangswettbewerb.
Seit der Spielzeit 2014/15 war sie zwei Jahre lang Ensemblemitglied an der Wiener Staatsoper, inzwischen hat sie einen Residenzvertrag, um mehr gastieren zu können. Aber noch immer ist das Haus am Ring Heimat und Stammsitz. wo sie unter anderem die kokette Musetta in „La Bohème“ mit hinreißender Verve gab und als Zerlina keineswegs landunschuldig ihrem Don Giovanni duettierend die Hand reichte. Sie trillerte sich mit hellem Funkelglanz, freilich über einem typisch russischen, noch ganz flaumigleicht rauchig-dunklen Stimmgrund schwebend, als schmuckliebende Eudoxie in „La Juive“ und hat mit der Adina in „L’elisir d’amore“ noch eine zweite Luxusbäuerinnenpartie im Repertoire. 2015 erfreute Aida Garifullina auch das Fernsehpublikum als ansehnliches Sopranspecial bei den Übertragungen des Wiener sowie des Dresdner Opernballes.
Ihre Rollenheimat sind gegenwärtig die soubrettigen, zierlichen Sopranpartien, die launischen Mädis vom Chantant – Nanetta, Norina, Despina, auch der freche Pagen-Oscar in Verdis „Maskenball“. Kein Wunder, dass man sie als koloraturfunkensprühende Lily Pons für einen Kurzauftritt in Meryl Streeps Biopic über Florence Foster Jenkins wähle. Doch Aida Garifullina hat inzwischen auch auf die lyrisch-elegische Seite gewechselt, singt Gilda wie Pamina. Eben gab sie ihr Wien ihr Debüt als Gounods Juliette, die am Ende der Oper nochmal ziemlich Soprangas geben muss.
Auch das russische Fach hat sie erkundet, obwohl für ihren Stimmtyp da nicht so viel zu holen ist. Doch die porzellanwangige Natascha in Sergei Prokofjews „Krieg und Frieden“ und die huldvolle, aber auch grausam höhenglitzernde Königin von Schemacha in Nikolai Rimsky-Korsakows „Der goldene Hahn“ hat sie schon gesungen, ebenfalls in Wien, als wäre es das Leichteste überhaupt, die Irina in Peter Eötvös’ spannender Tschechow-Vertonung „Tri Sestri“.
Klar, dass da die Industrie nicht unaufmerksam blieb, seit 2015 hat Aida einen Vertrag bei der Decca. Doch die Veröffentlichung der ersten CD, bereits zu Teilen 2015 aufgenommen, ließ auf sich warten. Von einem berühmten Tenor für ein Duett war erst die Rede (nicht davon mehr zu hören), dann wurde die Sopranistin von dem 11 Jahre älteren russischen Tennisprofi Marat Safin schwanger. Das Warten hat sich gelohnt: Die Tendenzen stehen gut, dass Aida Garifullina nicht nur ein Sopraneintagsfliege bleiben wird. Auf diese CD werden sicher noch mehr folgen, zumal sich die Sängerin hier klug und spezifisch beschränkt hat. Die orientalischen Garifullina-Zaubereien sind noch längst nicht alle enthüllt.
Über die ersten beiden Tracks, wie die ganze CD von Cornelius Meister mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien so ansprechend wie günstig begleitet, kann man getrost weghören. Sie sind Füllsel, hinreißend ist, was kommt. Eine tatarische Sopranistin darf russisches Repertoire singen! Wundervoll! Je zarter, inniger, kunstloser das tönt (Anspieltipp: das sanfte Wiegenlied von Tschaikowsky „Mazeppa“-Maria), desto traumschöner wird es. Leicht flirrend, exotisch glitzernd. Die große Fioriturengeste beherrscht Aida Garifullina ebenfalls. Ob schimmernde Rimsky-Korsakow-Arien oder zart gedehnte Rachmaninow-Lieder, sogar Kunstfolklore, balalaikaumzirpt – das ist zum Verlieben.
Aida Garifullina: Aida (Decca)Aida Garifullina
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