Berlin hat schon immer gern seine Muskeln spielen lassen. Das war im Wilhelmismus so und auch einige Jahre später, obwohl dann schnell blutiger Ernst daraus werden sollte. Am künstlerisch nachhaltigsten – ob auch am Wertvollsten, darüber tobt heute noch ein Glaubenskrieg der Kritik – freilich wurde ein solches Männlichkeitsritual in der Musik vollzogen. Genau heute vor 100 Jahren wurde, weil es in der Semperoper keine Orgel gab, in der alten Berliner Philharmonie Bernburgerstraße 22a/23 unter Leitung des Komponisten von der Dresdner Hofkapelle „Eine Alpensinfonie“ uraufgeführt, die letzte der neun Tondichtungen von Richard Strauss und eben jener „königlichen Kapelle zu Dresden in Dankbarkeit gewidmet“.
Strauss brachte es zwar auf zwei Jugendsinfonien, liebte es aber dann zupackend bildhaft, weshalb ihm diese spezifisch spätromantisch sinfonische Form der Tondichtung so zupasskam. Die Moderne aber hasste gerade solche Art schwitzender Zurschaustellung von Originalität und bürgerlicher Gemüts- und Gefühlsüberwältigung. Die der stets wirkungsbewusste Strauss nun nach „Ein Heldenleben“ (1898) und dem bourgeois-selbstreferenziellen, auch noch voyeuristischen Nachfolgestück der „Sinfonia domestica“(1903) sowie dem bombastischen Bibelballett „Josephslegende“ (1914) mit diesem alpinen Klangpanorama zu übertrumpfen und wahrlich auf den Gipfel zu bringen wusste. Eine vom Misterioso der Nacht über den Sonnenaufgang in Strahle-C-Dur über Almwiesen wandernde Klangschilderung – bis zur triumphalen Gipfeleroberung des Übermenschen als symbolischer Sieg über die Natur und die Welt inklusive Meisterung von Gewitter und Sturm, diversen Visionen von was auch immer; schließlich mit Abstieg und Verdämmern in der nächsten Nacht.
Wie schon bei „Und also sprach Zarathustra“, jener Tondichtung mit dem weltberühmt gewordenen Thema, das den Strauss-Erben noch bis 2019 (dem Erlöschen der Copyright-Schutzfrist) wohl das meiste Geld eingespielt haben wird, stand hier Friedrich Nietzsche geistig Pate. Notenskizzen tragen den Titel von dessen Traktat „Der Antichrist“. In einer frühen Konzeptionsphase lautete der Werktitel sogar „Der Antichrist, eine Alpensinfonie“. Das und die hypertrophe Besetzung von einschließlich der Fernmusik hinter der Bühne mindesten 129 Musikern (was nie erfüllt wird) die sogar noch Herdenglocken zu schütteln haben, brachte dem Stück mit seinen in zwischen 45 und 50 Minuten sich abspulenden 21 thematischen Stationen schnell bei aller Begeisterung des konservativen Konzertpublikums den Hohn und Spott der Avantgarde ein.
„Bluff und Reklame machen solch ein neues Werk des herrschenden Modekomponisten ja immer sensationell“, war schon der Uraufführungskritik der „Neuen Zeitschrift für Musik“ zu lesen. Gleichzeit tobte zudem seit dem 22. September 1915 die französische Herbstoffensive gegen das deutsche Heer in der Champagne und im Artois, am 6. Oktober hatte der deutsch-österreichische Angriff auf Serbien begonnen, der das Land bis November unterwerfen sollte. Martialische muskelzeigende Musik mitten im Ersten Weltkrieg also, die den Puls der Zeit meisterlich traf.
„Strauss triumphiert überwiegend nur mit Schmiss und Sinnlichkeit, den Erbschaften eines frühen, bäurisch-kräftigen, bunten Überbrettlstils, die er mit einem außerordentlichen Verstand in seiner Art fruchtbar gemacht hat. Dadurch klingt alles ganz vortrefflich, und es jubelt oft wunderbar in dieser Musik auf”, spottete später Ernst Bloch. „Überall hier versteht sich der Mensch nicht als Kreatur, die sich von Gott abhängig weiß, sondern setzt sich als oberstes Maß der Dinge“, ätzte Adorno. Und trotzdem hat die Postmoderne längst ihren Frieden mit dieser Musik gemacht, gibt sich wieder unbeschwert der Klangüberwältigung und Instrumentalextase hin.
In ihre nunmehr 100-jährigen, eben doch ziemlich ungetrübten Aufführungstradition wurde das Werk mal metaphysisch veredelt, mal ornamental strukturell ausgeleuchtet oder eben doch nur sportiv touristisch als schwitzender Instrumentalkraftakt vorgeführt und vor allem (sogar vom Komponisten) auch für Tonträger eingespielt. Kein großes Orchester, kein berühmter Dirigent, der in diesem grandios instrumentierten Kürstück nicht ein- oder mehrfach glänzen wollte und will.
Kein Wunder also, dass Berlin vorgestern, gestern und heute im philharmonischen Nachfolgebau an der Herbert-von-Karajan-Straße 1 nun zum Jubiläum noch einmal zum „Alpensinfonie“-Epizentrum wird. Mit gleich drei Interpretationen von zwei jüngeren, bisher erstaunlich naiv mit der Musikgeschichte umgehenden Dirigenten, sowie mit dem Gastspiel-Hochamt der heutigen Dresdner Staatskapelle unter Christian Thielemann, dem aktuellen Strauss-Lordsiegelbewahrer, der das Werk gefühlt mindestens einmal pro Spielzeit in Angriff nimmt. Die diese huldvoll rahmende Aufführung unter Gustavo Dudamel mit dem damals verschmähten anderen Strauss-Orchester, der einstigen Berliner Hof-, heute Staatskapelle, ist jetzt bereits Geschichte wie auch Thielemanns bereits letzte Woche erstmals in Dresden zelebrierte Deutung. Denn den eigentlichen Geburtstag haben sich selbstredend die Hausherren, die Berliner Philharmoniker vorbehalten, bei denen das Werk im Herbst 1916 erstmals erklang, und dafür wurde nun Andris Nelsons eingeladen.
Übrigens waren Herbert von Karajan und Arthur Nikisch bislang die einzigen Chefdirigenten, die sich diesem Werk bei den Philharmonikern gewidmet haben. Sämtliche Aufführungen der „Alpensinfonie“ fanden mit Gastdirigenten statt, neben Strauss selbst u.a. mit Erich Kleiber, Joseph Keilberth, Zubin Mehta, Seiji Ozawa, Mariss Jansons, Bernard Haitink, Christian Thielemann und zuletzt im Dezember 2008 mit Semyon Bychkov.
Und während Gustavo Dudamel die klangliche Kalorienbombe immerhin mit eher schlanken Werken wie Weberns Passacaglia op. 1 und Haydns Sinfonie Nr. 103 Es-Dur „mit dem Paukenwirbel“ kombinierte, auch Andris Nelsons auf nachdenkliche Kontraste mit dem vorausgehenden 1. Violinkonzert aus ist, setzte Thielemann dem fetten Brocken noch ein Sahnehäubchen in Gestalt von Mozarts leckerem Klavierkonzert B-Dur KV 595 mit dem alterweisen Menahem Pressler voran.
Zu wem kommt da nun also der Berg? Wer ist der besten Gipfelstürmer? Aus Dresden war schon zu lesen: „Bei aller orchestraler Opulenz der Partitur fiel auf, wie konzentriert und letztlich unprätentiös die Aufführung doch geriet. Thielemann zeigte sich erfreulich bescheiden – weniger ist manchmal doch mehr! – und setzte ganz aufs präzise Zusammenspiel und den wirklich formidablen Klang sowohl der solistischen Einzelstimmen als auch des ganzen Orchesters.“ Nelsons Interpretation wird bald in Kürze selbstredend in der Digital Konzert Hall abrufbar sein.
Und wenn auch der erschöpfte Berliner (theoretisch) die „Alpensinfonie“ sogar fünfmal in Folge hören kann (Nelsons spielt nämlich dreimal), leider logistisch das zweite Dudamel-Konzert – dann im Konzerthaus – mit dem Thielemann-Auftritt sich überschnitt (es gab also insgesamt sechsmal „Alpensinfonie“, sicher ein – wenn auch zweifelhafter – Weltrekord), das Werk führt längst eine zweite, unserer multimedialen Zeit angemessenere Existenz, die wohlmöglich aus Strauss gefallen hätte: als Untermalung für Diashows oder Filme aus den Alpen.
Der Beitrag 100 Jahre Alpensinfonie – in Berlin mit Dudamel, Thielemann und Nelsons erschien zuerst auf Brugs Klassiker.