Oper in Cleveland? Ja, es gibt hier, in der Stadt, die einmal die fünfgrößte der USA war und heute nur noch auf Rang 48 kümmert, eine kleine, lokale Gruppe. Die spielt dieses Jahr zwei Aufführungen „Nozze die Figaro“ und zweimal „Madama Butterfly“. Und dann ist da noch das Cleveland Orchestra. Das hat durchaus auch eine Operntradition. In den Dreißigern, als man in der frisch eröffneten Severance Hall sogar noch eine komplette Bühne hatte, da gab es unter Artur Rodzinski szenischen Produktionen von Wagner- und Strauss-Werken, auch die US-Erstaufführung von Schostakowitschs „Lady Macbeth von Mzensk“ fand hier statt. Franz Welser-Möst, seit 2002 Chefdirigent, hat diese Tradition wiederaufgenommen und auf sehr spezielle Weise zum Blühen gebracht. Mit immerhin drei Vorstellungen in der Saison. Ein Höhepunkt war sicher 2014 Janaceks „Schlaues Füchslein“ mit dem kalifornischen Regisseur Yuval Sharon. Der ist inzwischen vielgefragt, Welser-Möst hat ihn noch an die Wiener Staatsoper vermittelt, nächstes Jahr bringt er mit Neo Rauch in Bayreuth „Lohengrin“ heraus. Und das „Füchslein“, das im Herbst wiederaufgenommen wird, ist sogar mit im Gepäck für den Wiener Musikverein bei der Europatournee anlässlich des 100. Orchestergeburtstages. In Cleveland haben die beiden aber jetzt Debussys „Pélleas et Mélisande“ herausgebracht, Welser-Mösts 76. Opernpremiere.
Eine kluge Stückwahl. Nicht nur passt diese stark orchesterlastige Oper wunderbar zum Soundideal des europäischsten aller amerikanischen Klangkörper. Sie kann auch eine gewisse Statik nicht verhehlen. Und die wiederum lässt sich auf einem durch Requisitenelemente erweiterten Podium sehr gut ergänzen, weiterspinnen, ausdeuten, konterkarieren, Zwischen den Musikern stehen nun also ein paar Podien, auf denen eher starr und ohne Kontakt die Protagonisten positioniert sind. Der profunde Peter Rose als alter Ex-König Arkel aber sitzt links im Pelzmantel auf einem gotischen Thron. Die Tragik und Resignation der wie tot in Schloss Allemonde dahinsiechenden Familie spiegelt sich auch in der dezent ausgeleuchteten Saaldecke wieder. Mit ihren Art-deco-Spitzenornamenten aus Aluminium könnte sie direkt einem Debussy-Ambiente entsprungen sein.
Auf halber Höhe hinter Sängern und Klangkollektiv aber steht ein Glaskasten, der transparent und blickdicht sein kann. Nebel wallt in ihm, zwei Schauspieler und einige Tänzer spielen, spiegeln und reflektieren hier, was die Protagonisten denken und oft nicht sehen, wie etwa die nur dem Knaben Yniold (hell und klar: Julie Mathevet) abgepresste Mauerschau der Umarmungen des verliebten Paares im Turm. Projektionen und Schattenrisse deuten dort oben die Schauplätze an, Puppen und grauen Menschen in Regenmäntel wandeln, oft mal wird es aber in entscheidenden Momenten oben schnell trüber, so intensiviert und fokussiert sich das Geschehen wieder vorn, wo es klingt und singt.
Man folgt so dieser seltsamen, so Vieles unausgesprochen lassenden Geschichte auf einer halbabstrakten, traumwandlerischen Ebene. Noch intensiver als sonst wird es vom Orchester erzählt, mit dem Piano-Mut stetig neuer Diminuendi vorangetrieben. Wie Wellen kräuselt sich das, unendlich fein und verästelt. Und trägt doch unaufdringlich die Sänger. Die von Welser-Möst sehr geschätzte Martina Janková singt ihre erste Mélisande, ganz in Gelb gekleidet. Staunend, nicht naiv, gefasst, mit leichter Höhe und transparenter Diktion. Sie fügt sich in ihr Schicksal. Orange ist die Farbe von Pelléas und warm, wohlig ist auch das Timbre des Kandiers Eliott Madore, ein wirklich junger Halbbruder des grimmigen, ja zornigen, wütenden Golaud, wie ihn Hanno Müller-Brachmann markant gibt – ganz in Grün. So vergehen die drei Spielstunden voll Zweifel und Leidenschaft, Zauber und Ungewissheit als magischer Realismus wie im Traum und wie im Flug.
Ein sehr besonderes Raumkunstklangwerk also. Das nächstes Jahr konsequent weitergeführt werden soll mit Wagners verwandtem „Tristan“ – und für 2018 denkt man über „Ariadne auf Naxos“ nach.
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