Quantcast
Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
Viewing all articles
Browse latest Browse all 826

Bürgerliche Trauerarbeit: Glucks „Alceste“ – packend heutig an der Opéra de Lyon

$
0
0

Wenn man heute eine so musikgeschichtlich bedeutendes wie ledrig anmutendes Werk wie Christoph Willibald Glucks Antikenvertonung „Alceste“ ansetzt, dann sollte man vor allem eines haben: zwei sehr, sehr gute Sänger. An der Opéra de Lyon sind diese aufgeboten in Gestalt und Spranstimme der bisher eher mit Rossini und Mozart vor allem in Frankreich bekannt gewordenen Karine Deshayes und dem hier geborenen Tenor Julien Behr. Und auch der wild aussehende, sich nur wenig sanfter im Graben gebende Geiger und Dirigent Stefano Montanari weiß am Pult des frisch mit Barockbögen ausgestatteten, so als „I Bollenti Sprititi“ fungierenden Lyoneser Opernorchesters, wie er edle Trauereinfalt und stille Leidensgröße mit Spannung und Tiefe auflädt.

Inszeniert hat der vielbeschäftigte, gerade hier gern gebuchte Alex Ollé vom baskischen Theaterkollektiv La Fura dels Baus. Er hat sich in der 1767 in Wien auf Italienisch uraufgeführten, nun in der neun Jahre jüngeren Pariser Fassung gespielten Tragödie in drei Akten zurückgehalten. Er konzentriert sich in dieser Totenklage in Opernform, wo der sterbende König Admète von seiner Gattin Alceste abgelöst und erlöst wird, die sich an seiner Statt den Göttern opfern will, auf dass er lebe, auf einen einzigen, realistisch durchgezogenen Regiegedanken: Die Geburt der tönenden Tragödie als Druck auf den Autoradioknopf.

Fotos: Jean-Louis Fernandez

Nach Videosequenzen von schicksalsdräuenden Wolken und seltsamen Elektronikgeräuschen sehen wir also auf der Leinwand ein reiches Paar, das von einer südlichen Villa aus mit dem Auto losfährt und die Ouvertüre losfetzen lässt. Zu den aufbrausenden Klängen streitet man sich, der Wagen kommt von der Straße ab, überschlägt sich. Zwei blutüberströmte Körper liegen neben dem Wrack. Dann blendet das Leinwandgeschehen über in eine hohe, düstere Wohnhalle mit großen Fresken, Fenstern dazwischen und einer Kopie von Leonardos „Abendmahl“ als Inbegriff christlicher Caritas auf der linken Wand. Der bourgeoise Realismus ist total.

Obwohl wir bald merken, dass wir hier an einer Art Koma-Vision von Alceste wie Admète teilhaben. Wir sehen ihn in einer gläsernen Intensivstationszelle liegen, die strahlend weiß und technoid rechts in den Raum gestellt ist, hinter einer Gardine verschwinden kann. Links im dunklen Saal sitzen die trauernden Verwandten um die in ihrem Gram versteinerte Alceste, der Chor ist hinter die Bühne verbannt. Alles konzentriert sich auf die intensive Karine Deshayes. Deren Stimme ist groß, hell in den konzentrierten Höhen und mit dunklem Fundament zugleich ausgestattet. Sie kann Pathos, hat aber auch Schlankheit, lässt Nähe zu, sich mit ihr zu identifizieren und hält trotzdem auf Distanz. Und – sie berührt stetig.

Nachdem sie auf einer spiritistischen Sitzung mit Kerzengeflacker und einem Chor trauender Megären von einem dubiosen Priester erfahren hat, dass ihr Gatte nur im Gegenzug für ein anderes Opfer überleben wird, gerät ihre berühmte Evokation am Ende des ersten Aktes, „Divinités du Styx“, wo sie sich den Göttern der Unterwelt anbietet, so beklemmend wie beeindruckend. Als diese auf den Austausch eingehen, springt Alceste, wieder ist das Aktfinale das ihre, am Endes zweiten Teiles, nach der lyrischeren, gleichwohl ebenso anrührenden Arie „Ah, malgré moi mon faible cœur partage“ ins Nichts.

Olé und sein Bühnenbildner Alfons Flores haben dafür den Raum durch einen sich heransenkenden Schrank verkleinert. In diesem intimen Moment der Reflektion wechselt Karine Deshayes die Kleider von Schwarz auf Weiß, so wie sie Koloraturen herausschleudert und tritt dann an die geöffnete Balkontüre. Und schon vorher, im Duett mit dem genesenden Admète, dem sich langsam die furchtbare Wahrheit enthüllt, gewinnt dieses Frau eine schlichte, antiheroische Größe. Dazu passend gibt auch Julien Behr mit seinem stahldurchsetzt strahlenden, fein fokussierenden Tenor in bester französischer Diktion nicht den Machomachthaber, sondern den zweifelnden, verzweifelnden Gatten. Beider Duo erweist sich als Meisterstück früher Opernpsychologie, hier siegt der Menschenkenner Gluck immer wieder über seinen Mangel an melodisch wiedererkennbarer Eingebung. Und erreicht, was ihm am Wichtigsten ist: die Intensivierung des Textes durch neuen musikalischen Ausdruck,

Euripides, Gluck, sein ursprünglicher Librettist Ranieri de Calzabigi und der französische Bearbeiter François du Roullet haben im dritten Akt den zufällig vorbeikommenden Herkules als komisch-groteske Figur eingebaut. Der interessiert Alex Olé nicht besonders, er lässt ihn als blumenbringenden Trauergast im Pennerlook auftauchen, und schiebt ihn gleich wieder in die Bedeutungsecke. Die Unterwelt, das sind ebenfalls die Albträume Admètes, die sich wie blaudunkel gemaltes Altmeister-Wolkengebräu als Videobild über den zunächst höllisch grün leuchtenden Raum und die darin verteilten Patienten legen.

Wenn Alceste, die jetzt in der Krankenzelle dämmert, sich wieder erhebt, dann ist das nur ein Trugbild. Die illusionslose Regie misstraut nämlich dem lieto fine: Wieder suggerieren Videobilder ein neuerliches Familenidyll, wie es sich wohl Admète erträumt. Hier liegt am Ende die opferbereite Königin aufgebahrt im Sarg. Die Vergebung des Apollo, sie ist nur ein Trugbild. Die Angst vor den Göttern, die Furch vor dem Unglück, sie hellt sich diesmal nicht auf.

Die sowieso von Gluck nur am Rand abgehandelten Nebenrollen klingen in Lyon allesamt unbedeutend. Dafür fokussiert sich die Aufmerksamkeit auf das musikalische Geschehen im Graben. Stefano Montanari kann es elegant wie schroff, er macht seinen exzellenten Instrumentalisten mächtig Druck, lässt aber auch Raum für lichte Holzbläsersoli, graziöse, auf der Bühne meist durch Leere gespiegelte Tänze. Er verklammet Glucks große Szenenkomplexe dramatisch, konzentriert sich dann aber immer wieder auf die Ausbrüche der Einzelnen, bleibt dich dran an den Singenden. So erhält Glucks Pathos für den heute solches Erlebenden das, was es ihm trotz aller formelhaft frühklassischen Gespreiztheit einer vorgeblich neuen Naturhaftigkeit nahe bringt: das Unmittelbare der nachvollziehbar tragischen Erfahrung.

Der Beitrag Bürgerliche Trauerarbeit: Glucks „Alceste“ – packend heutig an der Opéra de Lyon erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


Viewing all articles
Browse latest Browse all 826