Er liebt es, sich ständig etwas Neuem auszusetzen: Shaolin-Mönchen, dem Tango, Wagners „Ring“, japanischen Mangas, den Ballets russes, der Sprachverwirrung, der „Nussknacker“-Märchenwelt, Ravels Bolero. Sidi Larbi Cherkaouis Blick auf die Bewegung, welche Tanz wird, ist einer, der die Vielfalt sucht, das Neue, Andere in den Kulturen, Religionen und Kunststilen findet. Nur nicht stehen bleiben. Über den Tellerland schauen. Redet Sidi Larbi Cherkaoui über seine Neugierde, dann wird er schnell grundsätzlich und poetisch: „Ich hoffe auf ein besseres Morgen, auf eine bessere Welt, wir müssen gegenwärtig so viel reparieren. Deswegen schau ich über meine Limits hinaus und versuche Dinge zusammenzubringen. Ich will vom Leben überrascht werden, ich finde es auch gar nicht schlimm, dabei einmal falsch zu liegen. Ich finde darin immer Hoffnung, es besser zu machen, über eine weitere Grenze hinaus zugehen.“
Anderseits ist Sidi Larbi Cherkaoui, der ja selbst als Sohn eines muslemischen Marokkaners und einer katholischen Belgierin in Antwerpen französischsprachig aufgewachsen ist, auch ein Mann der Treue. Die sich als Linien durch sein vielgestaltiges Werk zieht. Zum Beispiel in seinem Festhalten, Weitermachen, sich Entwickeln mit dem weltberühmten englischen Bildhauer Antony Gormley. Viermal haben die beiden inzwischen zusammengearbeitet, beim fünften Mal wurde diese Kollaboration nun auf eine andere Ebene gestellt.
Und zwar wieder an der für Innovatives offenen GöterborgsOperans Danskompani, wo die scheidende, inzwischen nach Wuppertal gewechselte Chefin Adolphe Binder auf die clevere Idee verfiel, berühmte Choreografen in Ruhe eine Kreation entwickeln zu lassen und mit dieser dann international auf Tournee zu gehen. Dieses Rezept hat auch schon die Macher der Movimentos Festwochen der Autostadt Wolfsburg angesprochen, wo die schwedische, aber natürlich global zusammengesetzte Truppe nun zum wiederholten Mal gastiert. Diesmal mit „Noetic“ und dem koproduzierten, als deutsche Erstaufführung gezeigten „Icon“. In „Noetic“, 2014 ebenfalls in Göteborg herausgekommen, verändern Kohlefaserreifen die Gestalt der Tänzer, Gromley hatte Objekte entwickelt, mit denen sie sich auseinandersetzten.
„Adolphe hat vorgeschlagen wieder mit ihrer Kompanie in einer anderen Konstellation zurückzukommen, meine Tänzer miteinzubinden“, erzählt Sherkaoui übe die Genese von „Icon“. Ich liebe die Fähigkeiten der Göteborger Tänzer, sie sind so vielseitig, die haben sehr gut verstanden was ich tue.“
„Icon“ war der zweite Teil eines Ende 2016 herausgekommenen Abends über „Icon & Iconoclasm“, dem Aufbau, der Bedeutungswertung eines Bilds und seiner anschließenden Zerstörung. Diesmal hat Gormley nicht ein Ding erdacht, sondern eine Masse geliefert, mit der umzugehen ist, die das einstündige Stück determiniert, im wahrsten Sinne „formt“: Ton. Mineral, Erde, Stoff, auf dem wir laufen und aus dem wir, nach der griechischen Mythologie, von Prometheus gebildet wurden – nach seinem titanisch-göttlichen Abbild. 3,5 Tonnen Ton sind nun das Fundament und der kreative Ausgangspunkt, von dem aus Gormley mit den 14 Tänzern aus Göteborg sowie sechs Mitgliedern von Cherkaouis Eastman Company bildnerisch gearbeitet, gespielt, geknetet hat. Und Sidi Larbi verwandelte das in eine dramatische Form.
„Antony hatte für ‚Noetic’ die Idee, diese Karbonreifen oder Linien benutzen, jetzt folgt das Ying auf das Yang, quasi ein zweites Kapitel auf das, was ich in ,Noetic’ gemacht habe, erklärt Sidi Larbi Cherkaoui. Bei unserer ersten gemeinsamen Arbeit ,Zero degrees’ hat Anthony Silikondoubles von mir und Akram Khan angefertigt. Wir haben uns also verdoppelt. Da ging es um den Körper. In ,Sutra’ mit den Holzisten ging es um den Platz des Körpers, wie in einem Sarg, Leben und Tod. Dann kamen Aluminiumkisten in ,Babel’ mit Damien Jalet, der ist mir ebenfalls sehr nahe, wir arbeiten seit 17 Jahren zusammen. Die Kisten waren unterschiedlich groß ,aber sie hatten alle das selben Volumen haben, das war eine dreidimensionale Arbeit. In ,Noetic’ war der Stab dannwieder zweidimensional, da ging es auch um Gravität.
Das sollte im fünften Stück eine besondere Rolle spielen, Der Ton fällt runter und er ist ein ephemeres Material , alles verschwindet wieder, so wie auch der Tanz, auch da hat die Schwerkraft einen Einfluss auf die Bewegungen. Ich arbeite gern mit Händen, deshalb kam es dem Formen des Tons sehr nahe, das ist eine interessante Beziehung. Er ist schwer, es definiert das Stück. Erst ist er unter den Tänzern, irgendwann gewinnt es die Oberhand. Es symbolisiert so viel: Ornamente, Computer, tägliche Objekte. Er kann auch Geschlechtsteile sein, unser Körper. Er kann uns aber auch bedecken, wie die Asche aus einem Vulkan, er beeinflusst unsere Bewegung. Er ist organisch und emotional. Er hat nichts Schwebendes, Ton zieht uns immer runter.
Ich fühle mich auch ein wenig so, er beeinflusst meine Vorausschau, dort wo ich hingehe. Ich blicke auch zurück auf Vieles seit dem Beginn meiner Kariere. Er lässt mich innehalten. Ich bin jeden Abend sehr neugierig, wie der sich entwickeltet, wie er sich benimmt. Ton ist fast ein wenig lebendig. Wie müssen ihm gerecht werden, ihn beherrschen. Er ist wie ein kleiner Zyklus. Das Leben ist so kurz, ich möchte den Ton episch aussehen lassen.“
In „Icon“ hat der Ton noch viel mehr Möglichkeiten und Bedeutungen. Er lässt sich bearbeiten und er behält seine Gestalt. Er ist schmiegsam und spröde, schwer und streichzart. Er wird hier zum Urelement, das die Gemeinschaft gemeinsam bespielt, dass sie aber auch zusammenhält. Es lassen sich daraus Idole und Masken gestalten, Hüte und Helme. Man kann sich darunter verstecken, einwickeln, unsichtbar machen. Er verkleidet, verleiht neue Identität – und wird am Ende immer wieder neu durchgewalkt in eine andere Form und Bedeutung gebracht. Nichts bleibt, alles ist provisorisch und im Übergang. Die Truppe scheint sich dessen immer wieder verwundert zu versichern, schält sich erst aus ihren längst verschmutzten Kleidern und ergeht sich dann in wildem, ungestümen Tanzen – als kreativer Aus- und Aufbruch.
Dazu spielen live japanische Saiteninstrumente, Flöten und Trommeln, koreanische Streichern und es gibt Gesang von Anna Sato und Patrizia Bovi. Das ist archaisch, orientalisch, heilig, poetisch. Und auch hinreißend naiv. Es wird freilich durch die spezifische, sonnige Cherkaoui-Raffinesse der Nuancen stets davor gerettet, nur ein multikultureller Kindergartentrip mit Lehmkuchenbauen zu bleiben. Was schnell albern wirken könnte, bekommt hier poetisch-diskursive Schlagseite.
Doch damit nicht genug. Sidi Larbi Cherkaoui ist schon viel weiter. Eben hat er in Basel Philip Glass’ minimalistische Mahatma-Gandhi-Oper „Satyagraha“ einfühlsam und gar nicht als Tanzstück auf die Bühne gebracht. Und seit zwei Spielzeiten steht der Vielbeschäftigte nun auch noch dem Ballet Vlaanderen vor, das Antwerpen und Gent bespielt. Das war ein Einspringen, weil die Kompanie mit der Flämischen Oper zwangsfusioniert wurde. Schon einmal hatte man ihn gefragt. Beim zweiten Mal fühlte er sich der Verantwortung gewachsen. Und verteidigt sich auch trotzig gegen die Zweifler, die ihn als modernen Choreografen dort nicht sehen: „Es ist doch schon eine alte Geschichte. Ich habe 20o2 den Nijinsky Award in Monte Carlo bekommen und der dortige Tanzchef Jean-Christophe Maillot hat mich gefragt, etwas für seine Kompanie zu machen. Ich war sehr überrascht und fand es sehr mutig, weil ich nicht wusste, ob ich etwas Sinnvolles zu seiner Truppe beizutragen habe. Das wurde dann 2004 ,In Memoriam“ – sogar ein ganzer Abend.
Erst sollte es nur mit vier Tänzen ein halber Abend werden, dann wurde es 21 und ein Abendfüller. So hat es begonnen, mit dem klassischen Ballett, keiner hat mir Angst gemacht, man hat mich unterstützt, und es hat mir total Spaß gemacht. Ich habe seither bei vielen gelernt, aufgepasst und wollte etwas für das Ballet Vlaanderen tun. Ich bin jetzt 41 Jahre alt, habe keine Kinder, nur eine Katze, also warum mich nicht dieser Herausforderung stellen? Und seit 2006 wollte mich auch Peter de Caluwe, der gegenwärtige Intendant des Théâtre de La Monnaie in Brüssel, für die Oper gewinnen. Und so kommt eben alles zusammen. Nächstes Jahr werden die flämischen Tänzer, aber auch Mitglieder meiner eigenen Kompanie in Antwerpen bei der Inszenierung der Debussy-Oper „Pelléas et Mélisande“ mit auf der Bühne stehen. So kommt alles zusammen.“
Und so kann er es auch verkraften, wenn dem Vielproduzierer auch mal nur ein schwächeres Werk gelingt, so wie im letzten Dreiteiler in Antwerpen/Gent sein finales „Requiem“ zu einer neuorchestrieren ethnisch aufgerauten Kammerversion der Totenmesse von Gabriel Fauré. Da waren dann zwischen zwei wandartigen Stellagen aus leeren Fensterrahmen als unbehaustem Ort die klassisch anmutenden Passagen allzu glatt, unverbindlich und wenig eigenständig. Und die modernen Formationen atmeten ebenfalls wenig Kraft. Zudem wusste man nicht so recht, was er mit dem freilich hübsch anzusehenden Ganzen erzählen wollte.
Doch Sidi Larbi Cherkoui wird auch das sicher schon wieder als ihn stärker werden lassende Grenzerfahrung verarbeitet haben. Denn bereits der nächste Premierentermin naht: Am 19. Juli gibt es (diesmal als eine Hälfte eines Zweiteilers) ein neues Werk beim neoklassischen Ballet de Monte-Carlo. Das natürlich auch nach Flandern weiterwandern wird.
Noetic/Icon bei den Movimentos Festwochen, Autostadt Wolfsburg, 18.-20. Mai
Der Beitrag Von Wolfsburg bis Monte Carlo: Sidi Larbi Cherkaoui schwelgt weiter in seinem choreografischen Schaffensdrang erschien zuerst auf Brugs Klassiker.