Ein alter Mann, der sein künstlerisches Leben eigentlich seit 34 Jahren hinter sich hat, begeht zum musikalischen Zeitvertreib in seiner Pariser Villa noch ein paar kompositorische Greisensünden. Eine wächst sich sogar zu einer veritablen Messe aus. 80 Minuten lang. Er lässt es laufen, komponiert manche Teile nur instrumental, andere reichlich unorthodox. Manche borgt er sich auch aus. Einiges gerät unverhohlen opernhaft, anderes atmet eine aufregende Sprödheit. Ihn kümmert es nicht. Ein auch nicht mehr junger Mann nimmt sich diese gar nicht kleine „Petite Messe solonnelle“ über 150 Jahre später als Vorlage für ein Ballett. Ob Gioachino Rossini gefallen hätte, was der Choreograf Martin Schläpfer daraus für sein Ballett am Rhein in Düsseldorf fabriziert hat? Wohlmöglich. Auch der geht reichlich unorthodox vor, lässt es laufen, auch neben und vor der Musik. Legt inhaltliche Fährten aus und lässt die wieder schleifen. Ist abstrakt und doch konkret. Und hat am Ende doch etwas geschaffen, was mit dieser eigenwilligen, trotzigen wie tröstlichen Musik in einen befruchtenden künstlerischen Clinch geraten ist.
Martin Schläpfer ist ein Meister des Anfangens. Einfach nur Auftakt in der Musik und dann los, das gibt es bei ihm eigentlich nur sehr, sehr selten. Um dann meist gleich wieder anzuhalten. Diesmal fängt es wieder mal vor jedem Klang aus dem Graben an, der mit viel Chor, aber nur zwei alten Palyel-Flügeln (gespielt von Wolfgang Wichert und Dagmar Thelen) und einem Harmonium (Patrick Francis Chestnut) gefüllt ist, dem aber trotzdem der Generalmusikdirektor der Deutschen Oper am Rhein, Axel Kober, mit vorantreibendem Beat vorsteht. Ein strenger Holzstuhl war schon vor der schwarzen Vorhangblende platziert, einige andere sind jetzt in dem dunklen, schmucklos-eckigen Raum aufgereiht, den Ausstatter Florian Etti mit drei unterschiedlich geschwungenen Bögen geöffnet hat, hinten denen halbhoch schwarze Wände hängen. Ein sakraler Raum des Glaubens, aber auch offen und neutral.
Eine offenbar bedrängte Frau rutscht und läuft über Stühle, vier Männer drängen sich in einer Ecke. Ein Refugium, Zuflucht, Asyl? Keine Zeit zu denken. Die Musik hebt an, so ausgemergelt und intensiv wie in einer ländlichen Kirche, der Tag erwacht. Der feine Chor singt, ebenfalls vier treffliche Solisten (Morenike Fadayomi, Katarzyna Kuncio, Corby Welch, Günes Gürle). Martin Schläpfer beschwört ein Dorf, ein italienisches wohlmöglich, aber ein Don Camillo & Peppone-Idyll existiert hier höchstens, wenn ein fescher Bäckersbursch seine Weizenstangen austrägt. So konkret wird die Choreografie freilich nur selten. Und am Ende sitzt dann der Pfarrer, der zusehends nur noch passiv auf seine Schäfchen gestarrt hat, scheinbar leblos in der Ecke.
Martin Schläpfer lässt das Dorf, die Gemeinschaft höchstens als das Element gelten, das wie der gesungene Glaube, die Leute eint, aber auch entzweit. Je stärker der eigensinnige, ja störrische Choreograf sich von der Musik emanzipiert (was ihn aber nicht davon abhält sie auch gern als stimmungssteigerndes, den Fluss der Bewegungen und Emotionen anheizendes Mittel einzusetzen), desto intensiver hört man zu und schaut gleichzeitig auf die Bühne. Da gibt es Paare und Passanten, Solipsisten und das Kollektiv. Alle sind sie von Etti mit subtil zwischen Minimalismus und Realismus schwankender, dabei sehr farbharmonischer Arbeitskleidung, mit Pullundern und Schürzen, Hosenträgern und Schlabberhemden ausstaffiert worden.
Die einen tragen schweres Schuhwerk, mit dem sie einmal auch einer der an Bach geschulten Rossini-Fugen zerstampfen. Das ist nämlich mal wieder eines dieser rustikalen, erdnahen, irgendwie schweizerischen Schläpfer-Ballette. Die anderen kommen barfuß. Immer wieder mischen sich auch exakt synchron agierende Paare wie aus einer anderen Ballettwelt mit Spitzenschuhballerinen unter die Menge. Zum „Gloria in Exelis Deo“ scheinen vier Jungs dem Himmel entgegen zu springen. Beim Quoniam tu solo Sanctus“ schwebt Marcos Menha in seinem leuchtenden Shirt wie der Blaue Vogel aus „Dornröschen“ durch die Luft.
Natürlich inszeniert Martin Schläpfer keine platte Wortausdeutung der liturgischen Texte, welche Tanzausdeutungen geistlicher Musik oft so unsäglich platt machen, wenn da Maria barmt und Engel grinsen. Er ringt mit seinem so nonkonformen Klangstoff, klopft ihn wie der Junge am Anfang und Ende den Boden auf seinen Bedeutungsgehalt immer wieder neu ab. Da machen die Kerle vor der echten Pause auch mal eine Rauchunterbrechung und quarzen noch, wenn das ebenfalls teilweise zwischendurch dem Nikotin zugesprochen habende Publikum wiederkommt. Da werden Würste hochgehalten, plötzlich rührt eine Boys-Reihe auf Stühlchen in Espressotassen. Dann wieder werden Kreuzigungs- und Flagellationsposen eingenommen, es geht trivial wie hochfliegend zu.
Und es rührt, wenn sich eine die Arme schwer voller Rosenkränze wie Amulette behängte Frau (Camille Andriot) zum „Cruzfixus“ immer mehr in hysterische Ekstasezustände hineinsteigert und bis zum Ende nicht mehr herausfindet. Dann, wenn die fünf Außenseiter immer noch in der Ecke sitzen, denn in das Stück, in die behauptete, immer wieder getanzte Gemeinschaft haben sie es nie geschafft. Genauso wenig wie die Frau, die einer Maria Magdalena ähnlich im wilden „Agnus Dei“ wie ein „Sacre du Printemps“-Opfer gejagt wird. Das Groteske und das Graziöse, hier findet es gleichzeitig statt.
„Geistliche Hausmusik“ nennt Schläpfer diese „Petite Messe Solonnelle“, Rossini selbst schwankte zwischen „heiliger“ und „vermaledeiter“ Musik. Eines ist sicher: Es ist wieder eine dieser wunderbar widerständigen Schläpfer-Kreationen geworden, deren Bilder und Bocksprünge für sein großes, im Spiel wie im Tanz virtuoses, 45-köpfiges Ballett am Rhein lange nachwirken.
Termine: 4., 11., 24. Juni, 6., 7., 11., 15 Juli; am 21. Juni bei den Ludwigsburger Festspielen; am 22. Juli um 20.15 Uhr auf 3sat
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