Im calvinistischen Amsterdam gibt es zur Eröffnung des Holland Festivals zu dessen 70 Jubiläum als größtem Kulturfest des Landes ausgerechnet eine katholische Messe. Statt unter den goldinkrustierten Mosaikkuppeln im Langhaus der venezianischen Basilika San Marco befinden wir uns in einer weltlichen Kathedrale dem 1902 erbauten Gaskessel der längst aufgelassenen, seit den Neunzigern als Entertainmentpark genutzten Westergasfabriek –ein schier unendlich kreisrunder Raum mit gotisch anmutendem Stahlverstrebungswerk, das den Deckel mit seiner ampelartigen Mittelkonstruktion trägt. Und nicht die heilige Himmelkönigin ist anwesend, aber eine profane Monarchin: Maxima. Monteverdi macht es möglich: Anlässlich der 450. Wiederkehr seines (gesicherten) Tauftages erleben wir eine Aufführung seiner Marienvesper der besonderen Art.
Das Werk, 1610, kurz nach seinem „Orfeo“ in den Druck gegeben, erst in den letzten 40 Jahren einem breiteren Publikum bekannt geworden und auf Grund seiner harmonischen Kühnheiten wie seines extravaganten Vokalsatzes staunen machend, gibt bis heute Rätsel auf. Niemand kann sagen, ob es jemals wirklich für eine echte Messe gedacht war – obwohl es der liturgischen Form von damals gerecht wird. Oder ist es nicht, ähnlich wie später Bachs h-moll-Messe ein Exzellenzbeweis, eine Art ziwschen Tradition und Innovation ausgebreitetes Musterbuch für zukünftige Brotherren, das von den außergewöhnlichen Fertigkeiten seines Komponisten künden soll?
Vielfach ist das Werk inzwischen auch auf die Bühne gestellt, abstrakt oder konkret inszeniert, sogar vertanzt worden. Mit unterschiedlichen, bisweilen auch peinlichem, gar peinigendem Ergebnis. In der Amsterdamer Rotunde wird alles getan, um den emotionalen Mehrwert einer Visualisierung so groß wie möglich zu halten, ohne der Musik geistig wie optisch allzu nahe zu treten. Verantwortlich dafür ist Pierre Audi, Noch-Chef der Dutch National Opera, Ex-Leiter des Holland Festivals, Intendant des Kunstprogramms in der New Yorker Park Avenue Armory und ab 2018 für das Festival von Aix-en-Provence zuständig – also fast so etwas wie der Papst der niederländischen Kulturschaffenden (obwohl er aus Beirut stammt und in England aufgewachsen ist).
Was er hier tut, nennt er „mise-en-espace“, also eine eher ritualhaft zeichenartige szenische Andeutung, Raumbespielung, ein Klangtheater mit ein wenig Augenfutter, keine Inszenierung – eine Erhörung. Was schon rein praktisch Sinn macht. Dieser nur viermal gezeigte Abend wurde in knapper Probenzeit erstellt, und das Musikkollektiv – der kometenhaft in letzter Zeit zum Ruhm aufgestiegene Raphaël Pichon mit seinem hinreißenden, eben zehnjähriges Bestehen begehenden Instrumental- wie Chor-Ensemble Pygmalion, wird ihn später auch noch anderswo aufführen. Freilich nur rein konzertant, ohne den magischen Mehrwert dieses gerade in diesen Zeiten durch seine wache, klare Innerlichkeit und sein makelloses, aber eben nie glanzpoliertes Singen berührenden Abends.
Wobei man die Teilnahme der bildenden Künstlerin Berlinde de Bruyckere, die für „Skulptur und szenografisches Konzept“ verantwortlich zeichnet, auch getrost als Namedroping abhacken kann. Die paar gelb-orangen Lichtflimmereien auf den gebogenen Wänden hätte auch jeder Beleuchter basteln können, und ihre in der Mitte des Arenarundes aufgebahrte Großinstallation „Cripplewood“ aus Wachs und Leinensäcken kennt man mindestens aus dem belgischen Biennale-Pavillon von 2013.
So sind es einmal mehr Claudio Monteverdis unfasslich schöne, schlichte und trotzdem raffinierte Klänge seiner Vespro della Beata Vergine die hier fesseln, denen der Raum quasi ein kostbares Gefäß ist, in dem sie sich noch schöner und freier, sinnlich wie mystisch entfalten können. Nur leicht elektroakustisch angehoben und ausgeglichen, begeistert allein schon die Selbstverständlichkeit, mit der die acht Solisten und der 36-köpfige, in farbgedimmte Freizeitkleidung gewandte Chor über den Raum verteilt synchron singen. Ihre Töne verschmelzen nicht nur im polyphonen, dann wieder schlichten Satz, sie einen auch die Hörenden.
Audi inszeniert weitgehend ohne Inhalt, er zeichnet einzig abstrakt die Struktur der Musik nach, lässt sie auseinanderdiffundieren, zum Raumklang werden, dann wieder frontal fokussiert emporsteigen. Sänger und manchmal auch Instrumentalisten wie Lautenspieler und Posaunisten gehen herum, tönen von hinten, unten, oben. Bisweilen steht der Chor auf den Treppen im Raum verteilt. Das hat etwas Folgerichtiges wie Zwangloses. Fast zwei Stunden wirklich göttlicher Musik werden so gegliedert, die diversen, bewusst nicht übertitelten Psalmen und gregorianischen Responsorien für heutige, meist atheistische Anschauungen in eine neue Ordnung gebracht. Und doch möchte man, dass so etwas Inniges, zart Strahlendes wie das finale Magnificat nie aufhört.
Raphaël Pichon hat das, gegenüber der dreiviertelrunden Tribüne postiert, bestens im Klanggriff. Sparsam sachlich sind seine Bewegungen, magisch ist das, was sie erzeugen. Man wähnt sich getröstet und geborgen wie in einer Plazenta, genießt, saugt im Kollektiv den sphärischen Sound der zwei Harfen, der einzelnen Geigen, des verlässliche Ostinato der Orgel auf; gut gerade jetzt. Der zweite, einzig Maria gewidmete Teil, versammelt die Sänger um das dürre Kunstgeäst in der Manege liegend und stehend. Gestrandete, die nach einem neuen Anfang suchen? Vielleicht. Doch dieser so schlichte wie geistig aufwändige und intensive Abend ist wieder einmal ein Sieg der Musik über den Rest der Zeitumstände. Den wir so dringend brauchen. Wie sagt es doch Audi? „Der Raum wird zu einer Klangvision des göttlichen Universums, und wir Sterblichen sind zurückgeworfen, über unsere Sterblichkeit zu reflektieren.“
Termine: 4. und 5. Juni in Amsterdam, konzertant 10. und 11. in Versailles, 14. Juni beim Leipziger Bachfest, 31. Juli bei den London Proms
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