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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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„Pique Dame“: Petersburger Postsozialismus als triste Operette

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Der Tanz auf der Teppichschneiderklinge. Oder besser mit ihr. Sie scheint neben Germans Rucksack und seinem T-Shirt mit dem Peter-der-Große-Konterfei das prägende Requisite der Inszenierung von Peter Tschaikowskys nach wie vor gern unterschätzter „Pique Dame“ durch Jossi Wieler und Sergio Morabito an der Stuttgarter Staatsoper. Klarer Fall: Da ist einer ein ewig Gestriger, sozial wie auch mental ein wenig gestört, der sich im Hinterhof –Universum seiner schrabbeligen Kommunalka irr und wirr mit Hoodie als Möchtegern-Anarchist bewegt. Dieser German ist in Lisa verliebt, die mit ihrem weißen Backpack-Täschchen posiert, im Minikleid mit lauter Fotos drauf. Ein aufsteigerwilliges Instagram-Girl vor der iPhone-Zeit, irgendwann im postsozialistischen Umbruch. Sie ist in einen „Fürsten“ verliebt, Shigeo Ishino gibt den Jeletzki als Gentleman der Zarenära mit Schnauz, will was Besseres, raus aus der überbevölkerten Tristesse. Doch plötzlich wird sie von Germans Teppichschneider umschwirrt, umtanzt, ja geliebkost, gefährlich nah kommt die Klinge ihrem Hals und ihrem Minikleidchen. Sener Wirkung kann sie sich nicht verschließen. Bis es zu spät ist.

Eine sowjetische Operette, so trist, wie surreal, für diesen einengenden Blickwinkel haben sich das Regie-Duo samt bewährter, auch in ihrem Gammellook vorhersehbarer Ausstatterin Anna Viebrock entschieden. Und so beweglich virtuos sie die berühmte Geschichte nach Alexander Puschkin auch mit dem lustvoll bühnenbeherrschenden Stuttgarter Chor auf die sich maßvoll drehende Szene bringen, ihre fast zwanghaft auf ein allzu bekanntes Russlands-Elendsbild fokussierte Interpretation unterschlägt doch Einiges: das abgründig Düstere dieser Gespenstergeschichte; wobei sich bereits der Autor über seine Figuren ziemlich lustig macht. Vor allem aber die doppelte Zeitebene, die in der Tschaikowsky-Partitur mit ihren eben auch akustischen Anspielungen auf das französische Ancien Regime so feinsinnig eingewoben ist. Und die werden nicht dadurch aufgefangen, dass es ein paar stilistisch aus der Reihe tanzende Kostüme gibt.

Fotos: A. T. Schaefer

Also kein Petersburger Sommergarten, keine Rokoko-Enfiladen, Spielsalons, staubigen Schlafzimmer, triste Kasernen. Kein Bilderbogen, in dessen Irrgarten sich German immer mehr in spielsüchtige, liebewahnwitzige Hirngespinste verfängt. Nur diese drei rohen Holzwände einer Mietskaserne, wie immer bei Viebrock aus Eindrücken und Fotos vor Ort zu einer architektonisch unmöglichen Collage gesampelt. Da gibt es pistaziengrün bröckelnde Stuckpaneele, die Geländer am Moika-Kanal, wo sich später Lisa ertränkt (hier springt sie tosca-like kreischend vom Dach) wurden zu Balkonbrüstungen. Abgewetztes Kinogestühl dient als Sitzgelegenheit, statt Champagnerkelche werden Bierdosen aufgerissen. Und immer wieder – einem Historismus-Ufo nicht unähnlich – wird eine altmodisch aufzugkabinenähnliche Türenkiste herumgefahren und –gezogen, in der die alte „Gräfin“ haust, und in der später German (der sich nicht erschießt) von ihr und Lisa, beide längst Zombies, aus dem Stück und damit aus seiner Geschichte gekarrt wird.

Die „Gräfin“, die das aus ihrer Pariser Luxusjugend das Geheimnis der drei immer gewinnenden Karten besitzt, Germans Idee fixe, für die er auch sie mordet, das ist ebenfalls keine Mumie von Gestern, verstrickt in ihren trüben Erinnerungen mit mürben Restsoprantönen. Das scheint eher zu sein, was man heute in Internetporno Milf, Cugar oder Randy Granny nennt, eine reife Frau mit ungezügeltem Sexappetit. Die auch stimmlich noch knusprige Helene Schneideman zeigt deshalb nicht nur gleich am Anfang German die nackte Schulter unterm Pelzmantel, später erscheint sie mit weißem Wallehaar und XXL-Sonnenbrille als shabby schicke Ex-Diva und Gelegenheitsprostituierte. Obwohl schnell klar wird, dass auch sie nur eine Pennerin samt Einkaufswagen im Hinterhof ist, die mit ihren Freundinnen Erbsensuppe aus der Armenspeisungskanone futtert. Der Kollateralschaden-Mord an ihr aber wird zur deftig ausgespielten Liebesszene umgedeutet.

Das sind die Momente wo die Inszenierung Spaß macht, auch dank ihres schwerelos beherrschten Handwerks und der Mitspielfreude aller Beteiligen. Das breit ausgepinselte Intermezzo (zudem alle die Papierkostüme selbst baseln müssen) als Bettlerparty auf einer Dreigroschenoper mit Bikini-Beauty statt Zarin nervt dann aber nur; ebenso die optisch trashigen Nivellierungen dieser virtuos abschnurrenden East Side Story. Zumal auch musikalisch nicht alles nur toll ist. Wunderbare Vignetten setzten Nebenrollen wie die mit herrlich kehligem Mezzo tönende Freundin Polina (Stine Marie Fischer) beim Girlie Talk oder der schmierige Aufsteiger und Block-Oligach Tomski, dessen Solonummern Vladislav Sulimsky mit fleischigem Bariton singt. Doch die beiden Hauptpartien fallen empfindlich ab. Erin Caves hat als German für die wohl am meisten fordernde Tenorpartie des russischen Repertoires zu wenig Attacke und Durchhaltevermögen. Und Rebecca von Lipinskis Sopran klingt für die Lisa matt und höhenglanzlos, außerdem tremoliert sie sehr.

Im Graben waltet Stuttgarts Opern-GMD Sylvain Cambreling. „Pique Dame“ ist seine erste Tschaikowsky-Oper. Er ertrüffelt sich mit dem Orchester schöne Details und einen plastischen Klang. Gewand sind seine Tempi, finessenreich die Dynamik. Aber allzu oft hört es sich so laut und brutal an, als rumpele da unten die Rote Armee durch. Tschaikowskys westliche Eleganz, seine Mozart-Nostalgie, die sehrende Biegsamkeit seinem melancholischen Streicherbögen, das alles geht hier flöten. So sieht man in dieser Stuttgarter Premiere zwar manche neue Details, aber insgesamt enttäuscht die bei diesem Team zu oft angewandte Sichtweise dann doch. Da habe die vier es sich entschieden zu einfach gemacht.

Der Beitrag „Pique Dame“: Petersburger Postsozialismus als triste Operette erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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