Das fünfte Konzert der aktuellen Asien-Tour des DSO fand ohne mich statt: Der Unglücksgeigerin von gestern wollte ich nicht nochmals begegnen, und nicht einmal die 7. Beethoven-Sinfonie konnte mich locken; es wäre das letzte Mal auf dieser Reise gewesen. Doch der sonnige Ausflugstag an den Pazifischen Ozean nach Kamakura und die kleine Insel Enoshima war lang und eindrückesatt. Außerdem verlassen wir morgen sehr früh für zwei Tage Tokio, um – für wohl alle erstmals – die Insel Kyushu zu beglücken, drittgrößtes und zweitbevölkerungsreichstes Eiland im Südwesten des japanischen Archipels und wieder ganz nah an Südkorea. Sogar die Probe mit der neuen russischen Pianistin Yulianna Avdeeva wurde deshalb geschwänzt, so bleibt sie akustisch jungfräulich für die drei noch folgenden Konzerte, und selbst die mir unbekannte Halle im 1990 erbauten Tokio Metropolitan Theatre am belebten Bahnhof Ikebukuro muss wohlmöglich auf meinen nächsten Tokio-Besuch warten. Normalerweise ist hier vor 2000 Zuhörern regelmäßig das Yomiuri Nippon Symphony Orchestra Gast, eines von mindesten sieben Orchestern in der Stadt, das von Sylvain Cambreling geleitet wird.
Zeit also, heute ein wenig in der glorreichen Vergangenheit des Deutschen Symphonie-Orchester Berlin zu stöbern. Damals, als es 1946 frisch gegründet nach seinem amerikanischen Sender RIAS-Symphonie-Orchester Berlin und ab 1956 etwas neutraler 1956 in Radio-Symphonie-Orchester Berlin (RSO) umbenannt worden war. Die dirigentische Lichtgestalt im Berlin jener Jahre hieß neben dem schon früh als sein Förderer präsenten Herbert von Karajan nämlich Ferenc Fricsay. Der Ungar war nach einem triumphalen Dirigat des „Don Carlos“ 1948 an der im Theater des Westens residierenden Städtischen Oper (der heutigen Deutschen Oper Berlin) 1949 gleichzeitig deren Generalmusikdirektor und der Chefdirigent des RSO geworden.
Für ihn kamen sogar viele Musiker der Staatskapelle aus dem Ostsektor und wurden nun Angestellte der Amerikaner, er schloss einen Exklusivvertrag mit der Deutschen Grammophon ab und begann eine Fülle der damals neuen Langspielplatten mit einer ihm wichtigen Truppe von Sängern, darunter etwa Dietrich Fischer-Dieskau (sein jugendlicher Posa), Rita Streich, die körperlich kleine Schweizerin Maria Stader, Ernst Haefliger, Josef Greindl und Peter Anders sowie die Instrumentalsolisten Yehudi Menuhin, Géza Anda, Clara Haskil und Annie Fischer. Mit diesen baute der 1963 mit nur 48 Jahren verstorbene Fricsay während seiner Berliner Jahre (zunächst bis 1952 an der Oper und bis 1954 beim RSO, dann noch einmal von 1959-61 beim RSO) eine sowohl an Zahl wie Qualität unglaubliche Klassikdiskothek auf. Der Markt war hungrig, nichts war mehr in den Archiven, der Kanon wurde interpretatorisch neubewertet.
Diese sind, nach einem ersten, roten CD-Backstein mit den Instumentalaufnahmen (auf 45 CDs) der Deutschen Grammophon, nun mit einer zweiten, blauen Box voll von Vokaleinspielungen (weitere 37 CDs) wieder komplett und eindrücklich auf dem Markt verfügbar. 82 CDs in so wenigen Jahren (dazu kommen mindestens noch einmal 10 Alben mit Rundfunkmitschnitten bei Audite). Eine wunderbare Reverenz für Fricsay, nicht nur nachträglich zu seinem 100. Geburtstag, dessen am 9. August 2014 zu erinnern war, sondern auch für das DSO und seine klingendes Erbe. Denn erstaunlicherweise waren diese Aufnahmen in ihrer Mehrzahl fast immer auch einzeln greifbar, weil viele von ihnen als Klassiker der Plattengeschichte ihren Ehrenplatz haben, sie nicht altmodisch geworden, immer präsent, klar und modern geblieben sind.
Eine auch tontechnisch wirklich ideale Kombination von Werken, Orchester, Dirigent und Interpreten. Das macht jetzt die Opern- und Oratorienkiste wieder deutlich. Aber eben auch eine Verpflichtung für die Erben, diesen Weg weiterzugehen und sich ihm würdig zu erweisen; obwohl heute längst nicht mehr so viele Mitschnitte kommerziell verwertet werden. Der rbb als Rechtsnachfolger dokumentiert freilich zusammen mit dem Deutschlandradio weiterhin jedes DSO-Konzert, wie es dem Kulturauftrag für (ein von ihm allerdings nur noch in verschwindenden Maße mitfinanziertes) Rundfunkorchester entspricht.
In der roten Box finden sich Ferenc Fricsays fünf hochgelobte, immer wieder frisch zu hörende Mozart-Opern „Die Entführung aus dem Serail“, „Die Zauberflöte“, „Don Giovanni“, „Idomeneo“ und „Le nozze di Figaro“, die, damals schon in Originalsprache gesungen, nicht von ihrer packenden Gegenwärtigkeit verloren haben sowie das Requiem und die c-moll-Messe. Referenzaufnahmen seiner ungarischen Herkunft sind Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ und die Cantata profana sowie gleich zweimal Kodálys Psalmus hungaricus. Jeweils zwei Einspielungen gibt es auch von Verdis Messa da Requiem und Haydns „Die Jahreszeiten“.
Beethovens „Fidelio“ war die erste Stereooperneinspielung überhaupt, von Wagners ist „Der fliegende Holländer“ dabei, von Johan Strauß eine rhythmisch disziplinierte „Fledermaus“, die trotzdem prickelt. Außerdem gibt es Werke von Gluck, Mendelssohn, Bizet, Orff, Rossini, Brahms, Mahler, Strawinsky und vielen anderen zu hören. Ein CD-Interview mit Ferenc Fricsay über sein Leben rundet dieses Vermächtnis ab, ebenso eine Bonus-DVD mit seltenen Filmausschnitten aus Proben und Konzerten für Dukas’ sinfonische Dichtung „Der Zauberlehrling“ und Kodálys „Háry János“-Suite.
Zu dem angebotenen Kampfpreis für die kompakte Kiste (wie für ihre Vorgängerin) kann man nichts falsch machen und muss man einfach zugreifen. Denn wirklich jede Aufnahme ist interessant und eine Bereicherung, die meisten sind Spitzenklasse – auch weil sie eine besonders ungewöhnlich enge und intensive Beziehung zwischen einem Dirigenten und seinem langjährigen Orchester dokumentieren. Was Fricsay hier vermag, ist musikantisch und innovativ, auf der geschmacklichen Höhe seiner Zeit, aber eben auch zeitlos über sie hinausweisend. Diesem exzeptionellen, überzeugten Alleskönner gelang ein schlackenlos moderner, dabei immer die Eigenheiten des jeweiligen Werkes, das Vermögen seiner Künstler wie sein temperamentvolles Wollen zu einer unverwechselbaren Klangfarbe zusammenführender Stil.
Und man kann sagen, wie sich aktuell gerade wieder beim Hören beglückend feststellen lässt, dass für das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin dieser hohe Anspruch bis heute und über weitere sechs Chefdirigenten hinweg ein äußerst lebendiger Maßstab geblieben ist.
Morgen mehr!
Der Beitrag DSO in Fernost: Asientournee VIII erschien zuerst auf Brugs Klassiker.