Natürlich kann man in Aldeburgh auch den ganzen Tag nur auf den selbst bei Sonne schiefergrauen Atlantik starren und Kiesel über die sanften Wellen gleiten lassen. Bis es Zeit ist für den mittäglichen Fish & Chips mit Cod im Ganzen und vielen lecker Resten für die routiniert sich herabsenkenden Möwen. Der Weg dorthin führt dann auch an der Jubilee Hall vorbei, wo das Benjamin-Britten-Festival einst begann und wo vor 67 Jahren der „Midsummer Night’s Dream“ uraufgeführt wurde. Oder man macht das volle Festival-und-Folklore-Programm, wie es hier eigentlich dazu gehört. Das startet dann schon am späten Vormittag in Form eines Kurzinterviews mit dem seit 2014 amtierenden Festival-Chef Roger Wright, früher Big Boss bei der Deutschen Grammophon und der BBC, wo er auch die Proms verantwortete. Der hält vor allem den Betrieb am Laufen, Brexit ist für ihn kein Thema, denn sehr Vieles der Mutterorganisation Aldeburgh Music läuft ja hier auch als Kreativ-Campus über das Jahr mit den ausführlichen Nachwuchsprogrammen, die bisher ungefährdet weitergehen. Freilich sollen die hier durchlaufenden Musiker sich nicht zu sehr emanzipieren. Und auch ein neuer Artistic Director scheint nicht mehr unbedingt gesucht, nachdem der dem festival weiterhin gewogene Pierre-Laurent Aimard seinen Posten 2016 niedergelegt hatte.
Ein typischer Aldeburgh-Festival-Tag hebt meist um elf Uhr mit einem Konzert des gehobenen Nachwuchses an, heute mit der ins renommierte Echo Rising Stars Programme aufgenommenen Geigerin Tamsin Waley-Cohen und Huw Watkins am Klavier im akustisch angenehmen, wie fast alles hier in Beton-Holz-Optik als rustikalem Understatement gefallenden Britten Studio. Sie spielt eine flach tönende Schubert Sonate, ist dann aber vor der Pause weit besser und lebendiger in der Janacek-Sonate. Er bringt mit Emphase solo Ophelia’s Last Dance, des mit Aldeburgh eng verbundenen, als sybaritisch-faunische Erscheinung sich dann verbeugend anwesenden Oliver Knussen. Auch dessen Duo Reflection von 2016 lässt hören, dass er sich inzwischen auf eher neotonalen Pfaden bewegt. Ganz familiär darf Watkins dann noch eine artig verfertigte Klavier-Sarabande beisteuern.
Wäre kein Konzert gewesen, dann hätte man sich sicher auf einen der beliebten Festival Walks in die Umgegend mit ihren schönen Kirchen begeben können. Die sind, dem fortgeschrittenen Alter der meisten Besucher ist es geschuldet, eher Busfahrten mit vielen Stopps und ausführlichem Pub-Buffet-Besuch. Ein Muss, selbst zum wiederholten Mal, ist natürlich eine kurze Pilger-Visite im Red House, dem zweiten Domizil von Britten & Pears (die man mit ihren Silhouetten drauf auch als Manschettenknöpfe erwerben kann), wo die Seventies wie in einem Weckglas eingemacht sind: Batik-Kissen auf Cordsamtsesseln; seltsame Männer- und Jünglingsbilder, aus denen die schöne Alterszeichnung David Hockneys von Pears heraussticht, die er selbst nicht mochte, weil zu realistisch getroffen; eine monströs grüne Glasrebe von Rostropowisch auf der Fensterbank; gut bestücke Spiele- und Alkoholikasammlungen für die abendliche Unterhaltung; eine von der Decca geschenkte Fernsehtruhe; die Brille unter dem Pears-Portrait auf dem Britten-Nachttisch; die zwei Flöten im Komponierstudio, mit denen sie sich vergnügten; die Tellersammlung mit Britten-Operntiteln im alten Windfang – denn eigens für die Besuche von Elizabeth II. wurde ein neuer angelegt.
Man fragt sich dann doch, ob dieses zu seiner Zeit nicht nur wegen der geltenden Gesetze so diskrete Männerpaar sich unbedingt so ausführlich in der diesjährigen, von den alten Volontier-Ladies am Eingang wärmstens empfohlenen Festivalausstellung „Queer Talk. Homosexuality in Britten’s Britain“ bequem wiedergefunden hätten. Da werden sämtliche Koseformeln von Beauty bis Mouse und Honeybunch öffentlich, aber man erfährt eben auch viel über das repressive Klima nach dem Sexual Offences Act von 1967, dem gegenwärtig auch eine große Ausstellung in der Tate Britain gedenkt.
Im gleichen Jahr übrigens besuchte die Queen anlässlich der Snape-Maltings-Einweihung trotzdem auch beider Wohnhaus (was sie noch einmal tat als der 1969 abgebrannte Konzertsaal später neuerlich von ihr eröffnet wurde). Und sie kondolierte auch selbstverständlich 1973 Peter Pears zum Tod seines Partners. Die zwei liegen freilich brav separat nebeneinander, so wie sie es in der Öffentlichkeit wollten, auf dem Aldeburgher Friedhof; dahinter fand das bewährte Faktotum Imogen Holst seine letzte Ruhestädte. Und in der Kirche geben gerade die Masterclass Sänger von Ann Murray und Malcolm Martineau vor einem „warm, charming and knowledgeable public“ (Murray) ihr Abschlusskonzert; bei dem sich wiederum der Tenor Charles Sy als schönste Zukunftshoffnung erweist.
Von dort geht es wieder zurück ins weiter im Landesinneren liegende Snape, wo jetzt im daneben versteckten Herrenhaus die mutige Sopranistin Claire Booth darauf wartet, vor 40 Auserwählten im Wintergarten Poulencs „La voix humaine“ im Angesicht, zwischen und neben dem Publikum als Partygäste aufzuführen. Das freilich ist eine Inszenierung von David Pountney. Ganz nah und direkt wird hier der Kleider- und Seelenstrip einer von ihrem Liebhaber per Handyanruf verlassen Frau aufgeführt. Im rosa Negligee malt sie sich einen Lippenstift-Clownsmund und stopft Glückpillen in sich hinein, die sie mit Gin schluckt. Das ist so exaltiert ausgestellt, wie dann eben doch wahrhaft berührend. Fast unangenehm ist das, der eigentlich angegilbte Jean-Conteau-Text hat auf einmal einen heutigen Twist. Publikum, eben noch mit Schaumwein und Kanapees bedient, sitzt unbequem in den Kissen, während von irgendwo ein Klavier verzerrt klagt und die namenlose Lady sich immer mü-ehr exhibitioniert und offenbart: das Ende eine Affäre im Facebook-Zeitalter.
Beim Rausgehen holen einen Bill Fontanas grummelnde Backsteinbögen als Klanginstallation in einem ruinösen, ein wenig an Piranesi erinnernden Lagerhausgang wieder in die Suffolk-Gegenwart. Und auch das abendliche Konzert ist vor allem ein atmosphärisches. Das „Meeting of Angels“ wird bis zum Ende als Mixtur aus den gregorianischen Gesängen des ungarischen Saint Ephraim Male Choir und dem Sitarspieler Nishat Khan nicht wirklich multikultigut. Man hätte beide lieber separat gehört. Ragas und Ostkirchenliturgie sind eben doch zwei eigensinnige Musikwelten. Das Treffen der Engel fand trotzdem statt: weil in der altehrwürdigen Kirche von Blythburgh die über Moor und im hohen Gras fast verschwindenden Gräbern untergehende Sonne ganz herrlich den Himmelboten an der Kirchendecke lichtplastisch Flügel macht. Dorthin schweift der Blick, und man weiß: auch dieser Aldeburgh-Tag war ein guter Festivaltag. Diese Erfahrung möchte man eigentlich bald wiedermachen – bei diesen Musikwöchen mit den neuen, emblematischen Riedgras-Logo.
Das Aldeburgh Festival geht noch bis zum 25. Juni.
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