Nicht jedem Dirigent ist es vergönnt, seinen 90. Geburtstag höchst vital auf dem Podium und am Pult zu erleben, wie es kürzlich der von vielerlei Glückwunschvideos von Orchestern aus aller Welt begleitete Herbert Blomstedt zelebrieren durfte. Kurt Sanderling wurde fast 99, dirigierte aber freiwillig mit 90 Jahren sein Abschiedskonzert. Pierre Boulez, der ein knappes Jahr später starb, war da nur noch ein Schatten seiner selbst. Nikolaus Harnoncourt schaffte „nur“ die 86 und auch er verabschiedete sich schon zuvor via Brief von seinem Publikum. George Prêtre raffte sich hinfällig noch bis zum 92. Geburtstag auf. Günter Wand dirigierte sein letztes Konzert mit 89 Jahren. Und Michael Gielen, der heute 90 Jahren alt wird, hat schon Ende 2014 den Takstock aus der Hand gelegt: Altersdepression und schwindende Seekraft zwangen ihn zu diesem Schritt. Seither lebt er zurückgezogen am Mondsee. Doch er hat nichts von seiner Strenge wie (selbst)ironischen Weltsicht verloren.
Seine Karriere hat er der am heutigen 20 Juli 1927 in Dresden Geborene zwar als Repetitor für die Norma von Maria Callas am Teatro Colon in Buenos Aires begonnen, aber den meisten Teil seiner Laufbahn hat er mit gänzlich anders klingender Musik verbracht. Seine jüdische Familie war 1940 emigriert. Seine Eltern, das waren der österreichische Regisseur und spätere Intendant des Burgtheaters, Josef Gielen (dessen „Butterfly“-Inszenierung von 1957 noch heute an der Wiener Staatsoper gespielt wird) und die Schauspielerin Rosa Steuermann, die Schwester von Salka Viertel und Eduard Steuermann.
Bereits als Elfjähriger studierte Gielen Schönberg, als Dreizehnjähriger übte er mit dem Dirigenten Fritz Busch vierhändig Klavier. Er, der auch selbst komponierte, wurde Pianist im Ensemble Agrupación Nueva Música der Argentinischen Gesellschaft für Neue Musik, wo er auch Maurizio Kagel kennenlernte. 1950 ging Gielen an die Wiener Staatsoper, wo er ebenfalls als Korrepetitor arbeitete und unter anderem auf Herbert von Karajan, Karl Böhm, Clemens Krauss und Dimitri Mitropoulos traf. Ab 1960 wurde Gielen für fünf Jahre Musikdirektor der Königlichen Oper in Stockholm, 1969 Leiter des Belgischen Nationalorchesters in Brüssel und 1973 Chefdirigent der Niederländischen Oper in Amsterdam. Operngeschichte schrieb er als Dirigent der Uraufführung von Bernd Alois Zimmermanns Oper „Die Soldaten“ am 15. Februar 1965 in Köln. Von 1977 bis 1987 war Gielen Direktor der Oper Frankfurt, die unter seiner Leitung (in Zusammenarbeit mit dem Dramaturgen Klaus Zehelein) zu einem der innovativsten Opernhäuser Europas avancierte.
Gleichzeitig war er von 1978 bis 1981 Erster Gastdirigent des BBC Symphony Orchestra in London und von 1980 bis 1986 Leiter des Cincinnati Symphony Orchestra. 1986 übernahm er das SWF Sinfonieorchester Baden-Baden und leitete es bis 1999. Eine reiche Aufnahmetätigkeit von Bach, Haydn über Beethoven, Bruckner, Johann Strauß, Mahler bis Schönberg ist hier sein klingendes Erbe. Das klingt immer entschlackt und unsentimental, er suchte Wahrheit, nicht nur Hörvergnügen. Regelmäßig arbeitete er mit dem Konzerthausorchester Berlin und der Staatskapelle Berlin, wohin ihn sein Freund Daniel Barenboim immer wieder einlud.
Naxos veröffentlicht über das Label SWRmusic des Südwestrundfunks anlässlich Michael Gielens 90. Geburtstag die auf zehn umfassende Boxen angelegte Michael Gielen Edition, mit etlichen Erstveröffentlichungen aus allen bedeutenden Karriereabschnitten des Dirigenten.
Der Beitrag Streng und stilbewusst: Der Dirigent Michael Gielen wird 90 erschien zuerst auf Brugs Klassiker.