Die Speiseräume im Hotel heißen Chenonceau und Fontainebleau, aber sie haben nichts Schlossartiges, es sind doch nur anonyme Ballsäle. Mit langen Gängen, öd leeren Wänden und gewöhnungsbedürftigen Teppichmustern. So ist das eben, wenn Gruppen im wahrten Wortsinn „abgefrühstückt“ werden müssen. Anschließend geht es im Gänsemarsch zum Bahnhof, das Zentrum von Kitakyūshū scheint Sonntags früh um acht Uhr noch in Post-Halloween-Katerstimmung zu verharren. Macht nichts, das DSO hat ja seine bewährte Reiseleiterin und Listenhäkchenmacherin Connie Klopsch, die gerade vom Vorstand einen laserschwertartig blinkenden Polizisten- und Buseinweisungsstab bekommen hat und jetzt damit unnachgiebig die Richtung weißt: Möge die Macht mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin sein, das sich nun Richtung Myazaki aufgemacht hat.
Alle wirken noch ein wenig sediert, lassen sich willenlos leiten. Man muss Energie sparen, döst und liest, spielt Karten oder daddelt am Handy, erst eine Stunde im Shinkansen-Schnellzug, wo dauernd eine Lausprecherstimme brabbelt oder Musik quietscht, dann, nach einem Umsteiger in Shin Yatsushrio, noch zwei Stunden im ruhigeren Bus. Es geht durch grüne, sehr bergige Landschaft und anfangs durch viele Tunnel über die Insel Kyūshū bis nach Myazaki, einer sehr flach und weitläufig gebauten, grünen Touristenbadestadt am Pazifik mit einer halben Million Einwohnern. Angeblich soll hier die Historie Japans ihren Ursprung genommen haben.
In der Halle gibt es einen hektischen Imbiss, seltsame Süßigkeiten und Instantkaffee, dann sitzen die Musiker schon wieder auf dem Podium und spielen sich ein. Ob Berlin oder Japan, stets das gleiche Ritual. Immerhin erkennen einige das riesige, über drei Spielstätten verfügende Medikit Arts Center mit seiner nach der hier unterrichtenden Geigenlegende Isaac Stern benannten Haupthalle wieder: Den grauen Kachelkoloss, der in einen großzügige Gartenanlage eingebettet ist, haben sie vor 19 Jahren unter Vladimir Ashkenazy miteingeweiht.
In der Ferne so weit, aber auch so nah bei sich. Was akustisch möglich gemacht wird. Während Japan wieder einmal als ein gleichmütig melancholisches Land unter grauem Himmel vorbeizieht, höre ich eine brandneue CD mit absolut kalendergerechtem Inhalt: Musik zu Allerheiligen und Allerseelen mit dem gemischten Chor des Clare College Cambridge unter Graham Ross. Die vorzügliche harmonia-mundi-Scheibe versammelt in einer eklektizistischen Mischung fein verästelte Renaissance-Motetten von Richard Dering, William Byrd und Alfonso Lobo, aber auch von in diesem Geist schreibenden anglikanischen Sakralspätlingen wie Ernest Bullock, Kenneth Leighton, Edgar Bainton und Charles Villiers Stanford. Das ist so intonationsrein wie tröstlich gemütspurifizierend, apotheotisch gipfelnd in dem so strengen wie geistesfreien Vollender des spanischen Renaissancestils, Tomás Luis de Victoria, mit seinem 1603 auf den Tod von Maria, Habsburgerkaiserin und Schwester Philipp II., komponierten Requiem Officium Defunctorum.
Die Umstellung auf die alten Beethoven-Bekannten im Nachmittagskonzert in Myzaki erfolgt dann erstaunlich glatt. Sicher auch weil die intim holzgetäfelte Halle in angenehm proportionierter Schuhschachtelform so weich und satt klingt. In der Anspielprobe macht Tugan Sokhiev seine Musiker heiß, bremst sie aber immer wieder aus und bricht ab, um nicht zu viel Enthusiasmus zu verschwenden. Auch die Zugabe soll diesmal herausfordern. Ein orchestriertes Grieg-Klavierstück wird erstmals auf der Tour angesagt, aber eben nicht geprobt. Insgesamt gäbe es vier Encore-Möglichkeiten, damit wäre die dritte genutzt. Im Foyer macht sich derweil ein blauweißer Stoffdelphin bereit, der offenbar für eine Charity sammelt.
Und dann ereignet sich das bisher beste Konzert der Tournee überhaupt! Schon die Egmont-Ouvertüre hat Drama und Biss. Yulianna Avdeeva ist in ihrem 3. Klavierkonzert noch besser drauf als gestern. Und die Eroica hat die genau richtige Energie, gelingt spontan, synchron und leidenschaftlich majestätisch. Was nach dem taffen, immer weitereilenden Programm der letzten zwei Tage, ausgerechnet in einem Provinznest am Nachmittag nicht unbedingt zu erwarten war!
Auch wenn hier schon – siehe Fotobeweis – Joschka Fischer samt anderer Außenminister einst in einem opulenten Strandresort getagt hat. Dorthin (das Orchester hat da auch Quartier) geht es nun sofort nach dem Konzert, dessen Sponsor, ein lokaler TV-Sender, der 25-jähriges Jubiläum feiert, hat geladen, will seine anderen Gäste aber nicht warten lassen. Wieder so ein monströser Ballsaal, aber deliziöses Essen erwartet uns. Fein marmoriertes Kobe-Beef, Shushi in Holzboxen, Tempura-Krabbenschwänze wie Seeschlangen, Green-Tea-Eis und Reisschnaps, der direkt aus einem Indoor-Gärtchen auf eine Eisvase mit DSO-Logo läuft. Umständliche Reden, viele Verbeugungen, Blumenzeremonie. Trotzdem sind alle entspannt, gehen bei der japanischen Trommlervorführung so richtig ab, das DSO-Hornquartett revanchiert sich mit Schumann und dem „Freischütz“-Jägerchor. Und endlich kommt man mal früh ins Bett. Denn um neun Uhr ist schon wieder Abfahrt, Tokio wartet erneut.
Morgen mehr!
Der Beitrag DSO in Fernost: Asientournee X erschien zuerst auf Brugs Klassiker.