- Komisch ist es schon. Da erklingen die Bruchstücke aus Alban Bergs „Wozzeck“ und große Teile des Schlussakts aus Verdis „Otello“, Musik also, die jedem Opernliebhaber vertraut ist, so seltsam, fremd, neu und besonders. Und das nur, weil wir uns an einem Ort befinden, wo ein Stiftungsrat ob einer solchen genehmigungspflichtigen Repertoire erst um Erlaubnis gefragt werden muss, und weil das Orchester an einem Ort sitzt, wo man es sonst nie sieht, ja, man sieht es hier sonst ganz und gar nicht: das kann natürlich nur das Bayreuther Festspielhaus sein. Hier findet ganz selten nur mal eine Veranstaltung außerhalb der Wagner-Opernreihe statt, diesmal war es wieder so weit. Es galt, kurz vor Festspieleröffnung den 100. Geburtstag von Enkel, Festivalchef, Regisseur und Bühnengestalter Wieland Wagner mit einem Festakt zu gestalten. Der ist, – ähnlich wie bei der Queen – schon am 5. Januar 2017 gewesen, aber wurde erst jetzt öffentlich begangen. Gelegenheit für die zerstrittene Familie, Einheit zu demonstrieren. So waren die noch lebenden Mitglieder der Stämme Wolfgang und Wieland fast alle da (Daphne ließ sich krank entschuldigen, bei der Ausstellungseröffnung in der Villa Wahnfried wurde aber ein Grußwort von ihr von Ehemann Tilman Spengler verlesen, und natürlich fehlte der verlorene Wolfgang-Sohn Gottfried), keiner aber vom Stamm Verena.
Festspielleiterin Katharina Wagner demonstrierte nach der von Hartmut Haenchen tempomäßig in „Parsifal“-Nähe gerückten, hier ebenfalls sonst nicht salonfähigen „Rienzi“-Ouvertüre (Wieland hat das Werk 1957 in Stuttgart inszeniert) rednerisch familiäre Einheit. Hinter ihr prangte als Großprojektion eine Karfreitagsaue-Zeichnung ihres Onkels, den sie nie gekannt hat (er starb 1966), dem sie aber rhetorisch höchsten Respekt zollte. Nach den lyrisch-luzide von Claudia Mahnke vorgetragenen Ausschnitten der „Wozzeck“-Marie (von Wieland 1966 als vorletzte Arbeit in Szene gesetzt) folgte als Hauptereignis des mit zweieinhalb pinkelpausenlosen Stunden natürlich wagnerlangen Abends die Erinnerungsrede von Sir Peter Jonas, Ex-Intendant der Bayerischen Staatsoper, der Wieland Wagner noch zwei Studentenjahre in Bayreuth erlebt hat und den sich Nike Wagner gewünscht hatte, um einen Blick von außen auf ihren Vater zu bekommen.
Der war ein sehr langdauernder und weitläufig mäandernder, Urvater Wolfgang, Vincenzo Bellini, den Frauenmörder Gesualdo de Venosa, John F. Kennedy und andere „Arschlöcher“ miteinbeziehender Text, sehr, vielleicht zu persönlich, aber auch mit durchaus interessanten und überraschenden Aspekten aufwartend. Und was er gewiss nicht war: eine kritiklose, schönfärberische Hommage. Also sicher im Sinne des komplexen, sich selbst „nicht leiden“ könnenden Wieland Wagner.
Viel Lust auf mehr davon machten die „Otello“-Exzerpte (1965 hatte Wieland diesen Verdi in Frankfurt inszeniert). Weidelied, Gebet und Desdemona-Mord (wofür eigens Stephen Gould aktiviert wurde) klangen herrlich, die Akustik ist auch mit offenem Orchester fein. Das Festspielhaus als Bayreuther Scala! Camilla Nylund in einem rosa Walletraum sang mit Stahl und Seele, leider durfte Christa Mayer nur Stickworte liefern. Dann war Zeit für Wagners einzigen Sohn mit dem sprechenden Namen Wolf Siegfried, in der Familie nur Wummi gerufen. Der vollzog auf der Bühne herumschreitend so eine Art Privat-Exorzismus, sprach vorwiegend in Schlagworten und fragte am Ende: „Katharina, bist du am Amt?“
Als Abschluss und Abrundung gab es dann noch „Parsifal“, Vorspiel I und die wiederholte Verwandlungsmusik, nämlich inklusive der paar Überleitungstakte, die Engelbert Humperdinck hinzukomponiert hatte, damit man bei der Uraufführung 1882 mit dem Umbau fertig wurde. Seither waren die wohl nicht mehr zu hören gewesen. Doch wenn man Katharina Wagner auf der zuvor abgehaltenen Pressekonferenz Glauben schenkte, dann scheint sich mit Symposien und möglichen Uraufführungen im bald fertig renovierten markgräflichen Opernhaus das Spektrum der Festspiele vorsichtig zu öffnen und zu erweiterten. Und Bayreuth würde langsam im 21. Jahrhundert ankommen….
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