Lucerne Festival – nach vielen Jahren mal wieder. Schweiz, sehr Schweiz, Innerschweiz. Aber, Achtung: Festivalmotto Identität, sehr diversifiziert. Draußen, vor Jean Nouvels Almhüttendachschachtel, die in der Vierwaldstätterseesonne immer noch als schwarzes Loch im Uferpanorama fungiert, da wird man hineingezogen oder abgestoßen. Die vielen, von Bergen und Wellen zurückkehrenden Ausflügler und Touristen scheint das nicht zu stören, Araber, Asiaten, sie haben einfach eine gute Schweiz-Zeit. Direkt vor dem KKL an der Bootsanlege mischt es sich zwar schön, aber die Fremdenschlange driftet weg, die deutlich besser situierten Einheimischen stehen an. Denn gleich gibt es nicht nur das im vor drei Jahren eingeführte Format 40min, ein appetitanregendes Gratiskonzert im Luzerner Saal, auch das Festival Orchester unter Riccardo Chailly kann dabei bestaunt werden; sonst sind die Proben streng verschlossen. Es geht durch das aftereightgrün ausgeleuchtete Foyer, das ein paar Fransenvorhänge und shabby-chice Möbel loungig machen sollen. Nett gemeint, aber zwischen Nouvel-Purismus und Schweizer Steifheit schwierig. Im Saal liegen ein wenig die Nerven blank. Wird es mit dem Maestro funktionieren?
Tut es ganz wunderbar. Riccardo Chailly, mit Nickyshirt und kleinem Handtuch, ist ein gutgelaunter Conférencier, der genau weiß, wie er gliedert und erklärt. Es gibt Auschnitte aus dem zweiten Konzertprogramm des LFO, frühe Strawinsky-Werke. Den erst kürlich wiedergefundenen „Chant funèbre“ auf den Lehrer Rimsky-Korsakow lässt er als allerersten Schweizer Erstaufführungstest noch vor dem offiziellen Temin durchspielen. Dann spricht er, lässt wiederholen, klaubt ein wenig Details und praktiziert das ähnlich mit „Feux d’artifice“, geschrieben zur Verlobung von Rimskys Tochter. Damit sind die Frühwerke wieder komplett. Die Leute hören gebannt zu, auch die Kinder (zumeist von Musikern) auf den blauen Kissen mit Sponsorenlogo links in der Ecke. Ein kleiner Junge geht immer wieder zur Harfe und umarmt sie. Viele vertraute Gesichter im Orchester nachwievor. Sind ja auch nur etwa acht Instrumentalisten aus dem Scala-Orchester dazugekommen. Keine Bayreuther Verhältnisse mit Dresdner Übermacht! Das halbe Hagen-Quartett, Trompeter Reinhold Friedrich, Flötist Jacques Zoon, der Christ-Clan, die Mahler Chamber Orchestra-Musiker als Nukleus, alle da.
Das Lucerne Festival hat sich in den letzten Jahren oftmals zellgeteilt. Einseits konzentriert es sich jetzt auf vier Wochen und fünf Wochenenden im August/September, anderseits hat Intendant Michael Haefliger vielfältige Aktivitäten um den harten, unveränderlichen Programmkern der Sinfoniekonzerte herumgelegt. Da sind das LFO und die 2003 mit Pierre Boulez zur Stärkung der Moderne ins Leben gerufene Festival Academy, die inzwischen nicht nur ein eigenes Orchester auf Zeit ist (man geht sogar auf Tournee), sondern auch noch ein Dirigentenmeisterkurs (unter Heinz Holliger und Matthias Pintscher) sowie die Alumni hat, die als Kammermusiker oder sogar als Solisten zurückkommen. Es gibt die 40min sowie nach den großen Konzerten kleine musikalische Rausschmeißer zu Bier oder Wein in der Interval-Ecke, meist mit Künstlern des Abends oder die gerade da sind. Es gibt Kompositionsaufträge und Artists étoiles, dieses Jahr zwei, die kommunikationsgestählte Geigerin Patricia Kopatchinskaja (die als ausgewanderte Moldavierin natürlich bestens zum Motto passt) und den US-Filipino Jay Campbell, der der Academy entwachsen ist und jetzt als jüngster, schräger Star vor allem in den Seitenprogrammlinien eingesetzt wird.
Die Hauptsache, aber, 30 Sinfoniekonzerte in 31 Tagen mit ingesamt 22 Orchestern, lokalen wie interantionalen (10 ganz große sind es diesmal), die bleibt unberührt. Schon natürlich auch, weil sie so spitzenteuer ist. 350 Frankli sind am Eröffnungsabend maximal zu berappen, es geht aber auch ein wenig billiger; woran man (nicht immer schmeichelhaft) natürlich auch Rangfolgen erkennt. Und die Umsonst-Konzerte sind zudem ein wichtiges Argument für die Relevanz geworden. Das ganz Exklusive und das Zugängliche (wenn man Anstehgeduld hat), aber immer noch Hochwertige, so soll die Luzerner Mischung sich bewahren, verjüngen und legitimieren. Auch wenn es natürlich manchmal im Konzept knirscht.
An einem Abend wie dem zweiten Gastspielkonzert des Chamber Orchestra of Europe mit zwei Mozart-Sinfonien und den Rückert-Liedern, mit Christian Gerhaher und dem 88-jährigen Bernard Haitink in der nobel leuchtenden KKL-Kathedrale gibt es natürlich nicht zu mecken, außer dass er immer schon so war und auch noch anderswo auf Tournee zu hören ist. Egal, dafür kommt das moderat, aber lang klatschende Publikum. Man erlebt ein ältlich gewordenes, gleichwohl blitzsauber klingendes Orchester und einen alten Mann, die sich in der Haffner und Prager Sinfonie eine nette Zeit machen. Das ist gut, aber wenig aufregend. Bemerkenswert einmal mehr allerdings die natürliche Diktion Gerhahers, sein nüchterner, erzählerisch-erstaunter Zugang zu diesen oft sentimentalisierten Mahler-Liedern, tief, leicht, nachdenklich abwägend. Ein Interpretations-Lichtstrahl dann noch beim zugegebenen Scherzo aus Mendelssohns „Sommernachtstraum“-Musik – zart wispernd, gelenkig, geheimnisvoll huschend.
Nicht sehr viele Leute, viele Interne dann auf Blechsesseln und Lederpuffs oder stehend beim Encore im Interval. Der 28-jährige Jay Campbell mit charateristischem Stoppelkopf glissandiert auf seinem Cello John Zorns „Autum Rhythm“ und spielt mit drei Iphones Pauline Oliveros’ „Horses Sing from Cloud“, ein zart elektronisches Fipen, das zum Zuhören zwingt, aber etwa die drei Damen vertreibt, die eben noch von Anna Netrebko geschwärmt haben. Andere, nötige Töne einer jungen Generation im KKL. Nur der Intendant fehlt, der muss Sponsoren umtütteln, eine Notwendigkeit bei einem Festival mit so hoher wirtschaftlicher Eigenständigkeit.
Am nächsten Morgen im Südpol, an der Peripherie, der Stadt, da, wo man lieber nur zum Pilatus hoch als geradeaus schaut. In der Industriehalle ist ein Kulturzentrum und die Musikschule, vor allem aber das Domizil der Academy. 90 junge Msuiker sitzen jetzt da und warten auf Heinz Holliger, der in der Rückansicht wieder mal seinem Ruf als am kunstvollsten über der Glatze drapierte Haarplatte alle Ehre macht. Er mag verschmitzt lächeln, ist aber streng in der Probensache, feilt akribisch an Debussys „Khamma“ und Charles Koechlins „Le Bandar-Log“, beides Favoriten von ihm. Er will keinen Marsch, sondern Krieg und Pfefer, oder wenigstens Pepperoni! Intonationsfehler machen ihn kribbelig. Dauernd muss hier die Besetzung wechseln, den man hat viel Repertoire vor. Musikerferien gehen anders. Und dann stöhnt noch eine Geigerin später an der Bushaltestelle zur Kollegin: „I tried Schönberg, but it’s not fun!“ Das lass mal nicht den Heinz hören!
Entspannter geht es im KKL zu, da ist das LFO endlich wieder zum proben in den Großen Saal umgezogen. Riccardo Chailly ist sehr konzentriert und doch relaxed zugleich. So spielt diese akustische Wunderwaffe den zweiten „Sacre du Primtemps“-Teil mit staunenswerte Finesse und Elastizität durch. Das ist wirklich noch ein Ballett, rhythmisch raffiniert, aber strukturklar. Die Szenen aus dem heidnischen Russland muten sogar irgendwie italienisch an. Am Schluss klatschen die Mitspieler für die sich verausgabende Perkussionsgruppe, so wie auch der Solofagottist für seine einzeln geprobte Einleitung als süffige Klangschleife gelobt wurde. Mehr Arbeit macht hingegen ein drittes Frühwerk „Scherzo fantastique“, mit seiner fulminaten Polyphonie und seinem wild wirbelnden Farbenspiel, wo man stilistisch noch gar nicht so recht weiß, wo der Komponist mal hinwill. Chailly aber weiß es.
Draußen in der Seebar sitzt anschließend Michael Haefliger mit den Soloschlagzeuger des Bayerischen Rundfunks, Raymond Curfs, gleichzeitig eine Stütze des LFO und plaudert beim Kaffee über weitere Pläne. In Luzern sind zur Festivalzeit alle nah zusammen, und es wird nie langweilig.
Der Beitrag Lucerne Festival I: Shabby Chic in der aftereightgrünen Lounge erschien zuerst auf Brugs Klassiker.