Wer vielen etwas bringt, wird manchen etwas bringen. Aber eben nur manchen, und die diversifizieren sich dann auch wieder in Unter- und Teilmengen. Das wahrlich abgegrabbelte Goethe-Zitat geht mir durch den Kopf angesichts der Kontraste beim Lucerne Festival. Ob sich die Macher dessen bewusst sind? In Salzburg ist mehr Einheit, die gleichen Besucher sind in den verschiedenen Formaten anzutreffen. Oper, Konzert, vielleicht sogar Schauspiel, ganz Mutige trauen sich auch zur modernen Musik. In Luzern wirkten sogar im selben Gebäude die Besucher viel isolierter. Da sind etwa die großen Konzerte, Solitäre de luxe, das Publikum ist fein gemacht wie kaum mehr sonst wo, mit den Höhepunkten Wiener und Berliner Philharmoniker sowie dem Concertgebouw Orchest, die jedes Jahr am See sind – und natürlich dem LFO. Dessen Eröffnungsgala inszeniert man à la Salzburg in Smoking und Glitzer, endlich Schweiz Glamour! Eine der vielen, flächendeckend im Foyer ausliegenden Verlagsbelagen, sprich: bezahlten Anzeigentextheftchen inszeniert das pflichtschuldig sogar als Fotostrecke – und mancher kritische Klangpurist schüttelt nur mürrisch den Kopf.
Doch im zweiten Konzert des LFO geht es dann doch in erster Linie: um die Musik. Riccardo Chaillys pädagogisches Repertoireerweiterungsprogramm greift wunderfein. Mendelssohns „Sommernachtstraum“-Musik (draußen tobt freilich termingerecht regenpeitschend ein Sommergewitterinferno) kann man als eine letzte Abbado-Hommage verstehen, denn der dirgierte die Bühnenmusik in seinem finalen Berliner Konzert. Und als frühromantischen, von Literatur verzauberten Elfenspuk im grünen Athenerwald. Der diesmal sehr erdig und diesseitig tönt, filigran gesponnen, aber gar nicht brillant auftrumpfend. Sehr langsam das Tempo im Hochzeitsmarsch, das Scherzo klingt mehr nach rustikalen Handwerkern als ein paar Tage zuvor bei der Chamber Orchestra of Europe-Zugabe unter Bernard Haitink. Zu hören ist freilich: superbes Zusammenspiel, ein dunkel geformter, plastischer Orchesterton.
Im zweiten Teil entläd sich diese fein aufgebaute dramatische Spannung in Peter Tschaikowskys so selten gegebener, langer, aber unter einem klugen Dirigenten nie langweiliger Manfred-Sinfonie. Wieder eine Literatur-Vorlage, Lord Byron, ein schichsalsschwer suchender Held, auch in den Schweizer Bergen, wo sich ebenfalls der Komponist inspirieren ließ: Ein englischer Dichter, vertont von einem Russsen, nun dirigiert von einem Italiener an der Spitze einer multinationalen Hunderschaft (da sitzen allein 18 Erste Geigen!). Und das als Schweizer Naturschilderung – mehr Identitätssuche in der Musik geht kaum!
Das tönt mit grandios schwellendem Dunkelglanz, voll, nie fett, dramatisch-tragisch, aber nie überhitzt oder in den Kitsch abgleitend. Chailly weiß ganz genau, wann der Deckel drauf muss. Tschaikowsky, der Melodiker und generöse Instrumentalist, ist hier auf der Höhe zu erleben, lichte Violininsel, Harfenwasserfall und Feenglitzer folgen auf zupackende Klangballungen. Die Holzbläser begreift Chailly als Zentrum, legt um sie herum die Orchesterschichten bis hin zum finalen Orgelschall. Eine große Maschine läuft da auf Touren, aber sie kann auch filigran, nachdenklich, zwischen melancholischer Zerrissenheit eines zweifelnden Gemüts und älpisch übersonnter Herdenglocken-Heiterheit. Hier geht es es nicht um Ausstellung, sondern um Ausdruck. Gefühl regiert immer vor Brillanz.
Inspiriert gerät im Hochgefühl dieses Erfolgs auch das Encore im Interval. LFO-Solisten spielen erst als Bläsertrio einen österreichischen Choral, Klavier und Trompete folgen mit einem Hosokawa-Stück und attacca geht es mit einer Böhmischen Polka weiter, 25 Mann stark, 23 Bläser und zwei Schlagzeuger, zum ersten Mal LFO und Akademisten bunt gemischt. Das macht Laune. Und auch draußen am See genießen viele, sehr viele Identitäten die Ruhe nach dem Sommersturm mit Seeblick und KKL im Rücken. Jugendliche mit Essen und Weinflaschen sitzen geschützt in den Türen, ganze Gruppen von Schwarzen und Arabern lassen am Ufer die Beine baumeln. In der Seebar muss man sich hingegen zwischen vielen Sorten für den teuren Gin im ebenfalls teuren Tonic entscheiden. Diese Wahl haben die ein paar Meter weiter Sitzenden gar nicht, weil sie es sich kaum leisten können. Und über die Schwelle das KKL zu treten, das käme ihnen wohl auch für die Gratiskonzerte nie in den Sinn….
Gute Laune. Die wiederholt sich freilich auch im Samstagmorgenkonzert, das mit seinen schrägen Schweizer Ansichten bereits wieder eine andere Publikumschicht, vorwiegend ältlich und neuemusikgestählt, man kennt sich, bedient. Dabei hätten sicher auch die Gäste des gestrigen LFO-Abends in der Lukaskirche beim 2. „Identität“-Anlass ihren Spaß, was sie wohl selbst überraschen würde. Denn hier geht es um neue Schweizer Volkskunstmusik, so wie sie 1991 Heinz Holliger mit seiner liebenden Verfemdung „Alb-Cher“ auslöste. Eine Geistersage aus dem Wallis als vernügliches Hör-Spiel für Sprecher, Chor und seltsame Instrumente wie Hackbretter, Waschbrett, Schwyzerörgeli (Akkordeon), Fienschger Lädi (Streich-Psalterium), Bochhornophon (mit echten Ziegenhörnern), Teenundi Titschini (abgestimmte Holzblöcke) Gutteruschpil (Flaschenklavier). Mehr alpine Exotik geht nicht!
Die genüssliche Gruselnummer steht am Ende des Programms, vorher gibt es in der Holliger-Hälfte die abgefeimt antinaiven „Fünf Kinderlieder“ mit einer Barfußsängerin (darüber wird sich die anwesende Patricia Kopatchinskaja gefreut haben) und dem Komponisten am Englischhorn sowie den von den Instrumentalisten selbst gesprochenen, gesungenen, deklamierten Vokalzyklus „Gränzä – Grenzen“ auf italienisch-wallisische Lyrik. Darin fällt fast lakonisch-streng ein Eine-Satz-Lied heraus: „Zwischu Nimme-Heimat und Nunit-Heimat blaast en chaaltä Wind“ – „Zwischen Nicht-mehr-Heimat und Noch-nicht-Heimat bläst ein kalter Wind“. Jetzt hätte man gern, dass das auch die vor dem KKL hören könnten. Das Themen-Dilemma des Lucerne Festivals zwischen lauterem Anspruch und wohl (zu) wenig rezipierter Wirkung in wenigen Buchstaben.
Dagegen muss sich im ersten Konzertteil die eigens bestellte, fast 40-minütige Uraufführung „Ronde de Lutins“ behaupten. Helena Winkelmann nimmt die Alb-Cher-Spur auf, legt sie konsequenter als Sing- und Tänzestück an, abstrahiert aber auch, indem sie sie sich in den ausgewählten acht Gedichten einen jeweils tags und nachts spielenden Jahreszeitenzyklus zusammengestellt hat, da geht es mal surreal, mal konkret, mal freudig, mal traurig zu. Die Natur ist nicht nur nett, das hört man deutlich, aber die bösen Geister werden immer wieder weggetanzt oder -gesungen. Formidabel aufgeführt wird das von den acht sCHpillit und einem achtstimmigen Geisterchor unter Peter Siegwart. Selten ist das Lucerne Festival mehr Luzern. Unbedingt beibehalten. Alleinstellungsmerkmal!
Der Beitrag Lucerne Festival IV: umdüsterte Klangreise durch die romantikgrüne Schweiz erschien zuerst auf Brugs Klassiker.