Drittes und letztes Konzert des Lucerne Festival Orchestra: ein besonders ambitioniertes Programm, einzig Strawinsky. Die vier, zwischen 1906-08 enstandenen Frühwerke Opus 2-5 in chronologischer Reihenfolge, dann das nur fünf Jahre jüngere, immer noch als Klangbombe funktionierende Sacre du Printemps. Vom Romantiker zum Revolutionär, so das dramaturgische Schlagwort. Wieder großer Bahnhof im KKL. Obwohl vorn eininge Plätze frei sind, wie eigentlich jeden Abend. Nicht erschienene Sponsorengäste oder unverkauft gebliebene Kontingente? Es hätte sich in jedem Fall gelohnt, aber die Decca hat ja mitgeschnitten. Zuerst lässt Riccardo Chailly drei Lieder, „Le Faune et la Bergère“, auf Puschkin-Texte erklingen. Plüschig dahinwallendes Fin de Siècle, Von Wagner angekränkelt, hübsche Bukolik, wenig spezifisch und von kaum eigenen Tonfall. Ja, da sucht ein Komponist seine Identität – und findet sie noch nicht. Noch. Sophie Koch singt mit etwas gequetschter Diktion und nicht eben lupenreiner Intonantion. Das Orchester spielt sich warm.
Schon das Scherzo fantastique offenbart einen weit komplexere Orchestrierung, viel dichtere Faktur, die diffundiert, nach überall hin ausbrechen will. So wie die Bienen, die ihm thmatisch zugrunde liegen, auch wenn Strawinsky das später verneinte. Hummelflugartig wieselt und wuselt es da, freilich höchst geschmackvoll, es ist ein manierliches Brummen und Summen im Saal, instrumental allerfeinst abgeschmeckt. Kleinen Farbexplosionen gleicht auch das Feu d’Artifice, das kaum fünf Minuten lang aufscheinende und verglimmende Feuerwerk, ein tönendes Verlobungsgeschenk für die Tochter des verehrten Lehrers Nikolai Rimsky-Korsakow. Der war bei der hinausgezögerten Uraufführung freilich schon tot, weshalb der untröstliche Schüler Strawinsky einen Chant funèbre nachschob, nur einmal gespielt und dann im Archiv des St. Petersburger Konservatorium vergessen – bis dieser Begräbnisgesang vor zwei Jahren wiederentdeckt wurde. Zur Schweizer Erstaufführung ist jetzt auch die Archivarin anwesend, die den glücklichen Fund getätig hatte. Eine düstere, tragisch langsame Musik, immer noch mit Wagner-Reminiszenzen, wenig strawinskisch. Chailly führt das LFO mit sicherer, sparsamer Hand durch diese gerade durch seine lineare, jetzt wieder komplette Werkfolge spannende Frühlingserwachen eines Komponisten.
Um dann nach der Pause mit dessen Frühlingsopfer von 1913 zu explodieren. Freilich kontrolliert und immer, selbst in den bruitistisch peitschenden Tanzrhythmen mit Wohlklang. Ein großes Tier, eine Bestie entfaltet sich hier – und mit ihr dieses faszinierende Orchester in Hochfom, satt aus der Mitte klingend, nie schrill oder zu laut, ein Fest der Tutti, aber auch mit wunderfeinen Solo wie dem einleitenden, schillernd farbensatten Fagott des sonst in der Deutschen Radio Philharmonie Saarbrücken/Kaiserslautern spielenden Guilhaume Santana. Das Atavistische und das immer noch Moderne, die schneidende Schärfe und die zarten Reigen, Riccardo Chailly hat für alles Zeit und Lust, er trägt die ganze Klangfarbenpalette auf, hält seine Musker aber immer am Tanzen. Die Eruptionen verkommen nie zum bloßen Stampfen. Das ist so elegant wie folgerichtig, das klumpt sich, klebt aber nicht. Massivität versprüht sich sofort wieder. Eine Tonerzählung, aber auch eine Stilübung. Klasse! Und die Entwicklung zu eben dieser Stawinsky-Identität, sie kann in zukünftigen LFO-Programmen auch noch weiterverfolgt werden, wenn wohlmöglich die beiden anderen berühmten Ballets-russes-Stücke, Petruschka und Feuervogel zu hören sind, die vor allem in der Instrumentation Verbeugungen vor Rimsky-Korsakow sind. Ein sich sicherer Komponist konnte das wagen.
Große Auflauf hinerher im Dirigentenzimmer, Maurizio Pollini ist der erste Gratulant, Chailly-Gattin Gabriella beaufsichtig das Defilé. Dann schon wieder Abschiedsparty im Interval. „Sun of a Gun“ nennt Intendant Michael Haefliger Chailly, der aber ist vor allen für seine Musiker des Lobes voll. „Ihr seid ein Orchester, das nicht existiert, das sich jedes Jahr neu erfindet. Aber nach eineinhalb Probenstunden seid ihr schon wieder da, ist der spezifische LFO-Klang zu hören. Bleibt mir gewogen. Ich erwarte euch in ein paar Wochen in Japan zur Tournee und weiteren schönen Konzerten. Kommt bitte!“ Kein Zweifel, nach der Abbado-Totenklage 2014 und 2015, den Geburtswehen mit Mahlers Achter 2016, hat sich das LFO spielerisch eine neue Identität gegeben. Motto und Mission erfüllt!
Wir wechseln in eine andere Spähre, nur 10 Minuten hinter dem Hauptbahnhof. In der „Identitäten“-Reihe verheißt im Neubad das zweite Konzert „Inszenierte Nacht“ von Simon Steen-Andersen eine „Lesung nach den Buchstaben der Klassiker“. Was konkret eine grottenfad verfremdete Anneinanderreihung von ein paar Wunschkonzert-Hits ist. Sieben bewusst spießige Herren im Hemd mit Fliege lassen Bachs „Schlummert ein, ihr matten Augen“ bei sich verlangsamender Geschwindigkeit in immer tiefere, unverständlichere Bassgründe absinken. Schuhmanns „Träumerei“ wird zum elektronisch verzerten Gesang, unterbrochen von Mozarts Königin der Nacht als müde verkreischter Disco-Queen-Arie. Buntes Licht und die Spiegelkugel retten das auch nicht. Es endet mit einer schrillen Geisterstunde um Ravels „Scabo“, bei dem auch filmisch ein Pianist auf einem Betttuch als bleiches Gespenst mitspielt. Dieser müde Flopp, der beim Stuttgarter Eclat Festival eingekauft wurde, zeigte nur wieder mal, wie weit die performative Neue Musik hinter ähnlichen Seancen im Tanz oder Theater her ist. Echt gruselig! Spannend nur die Location: ein aufgelassenes Stadtbad, wo jetzt das alternative Luzerner Kulturleben planscht, und wo man im leeren Becken unter der Riesenrutsche auf stilsierten Sitzwellen Platz nimmt. Und wieder ist hier eine andere Stadtgesellschaftsinsel.
Selbst am Sonntagmorgen wird beim Lucerne Festival Programm gemacht. Sieben Veranstaltungen wären am Samstag möglich gewesen, sechs sind es heute. Und schon wieder sind aufgeputzte Sponsoren im bis zum zweiten Rang gefüllten KKL-Saal, der heute zum ersten Mal dem Academy Orchestra gehört. Heinz Holliger, beweist, wie sehr er inzwischen als Dirigent gereift ist und wird zu einem wunderbaren Tonanwalt für Debussy Khamma und Koechlins Les Bandar-Log. Es klingt jetzt weicher, ausgereifter sinnlicher als in den Südpol-Proben, aber auch etwas zahnloser. Doch was für ein gutes Orchester hat sich auch hier auf Zeit gefunden! Ob das den Zuhörern im Saal klar ist? Sogar der Konzertmeister hat sich diesmal manierlich für zwei schwarze Socken zur dunklen Jeans entschieden, dafür gibt Patricia Kopatchinskaja im zweiten Teil mit dem souverän durchtänzelten Holliger-Violinkonzert den weißen Fetzenengel. Jay Campbell, der andere artiste étoile, sitzt auch im Publikum. Mal sehen, ob diese Zusammentreffen weitere musikalische Paarungsfolgen haben wird….
Und so lautet mein Lucerne Festival-Fazit nach eigen Jahren Abwesendheit und jetzt fünf Tagen: Es wird ein wunderbarer Markt der Möglichkeiten, eine Begegnungsplattform für Musiker offeriert, wenn sie es denn wollen. Und alle, die keine momumentalen Maestri mit dem entsprechenden Elefantenego sind, scheinen die Gelegenheit zu nutzen. Da wächst also was, gerade mit dem Alumni-Netzwerk, das schon weite Kreise zu anderen Festivals und Orchestern zieht. Michael Haefliger und sein Team sind unermüdlich im Generieren immer neuer Formen, es gibt Musik in den Straßen und in den Anreisezüge, Kinder werden bedient, es gibt den alle Formen sprengenden Aktionstag für die ganze Stadt. Und sie versuchen auch einfach nur in den Konzerten thematische und personelle Linien auszulegen.
Wer möchte, der kann diese Woche gleich noch das Mahler Chamber Orchestra ohne LFO-Ummantelung ganz pur unter dem tollen François Xavier Roth hören, oder Riccardo Chailly mit seinem Scala Orchester. Man muss das aber auch wollen. Tun das viele? Augenscheinlich ist das Lucerne Festival immer noch für die meisten Besucher vor allem ein Anlass, sich zwei, drei Top-Orchester herauszupicken, dafür anzureisen, wohlmöglich zu essen und binnen einer Zugstunde wieder nach Bern, Zürich oder Basel zu entschwinden. In den diversen Formaten mischen sich die Menschen nicht, jeder wählt separat. Nicht einmal von dem gratis Appetithappen 40min 90 Minuten vorher machen die Besucher des Großen Saals Gebrauch. Man bleibt lieber unter sich. So wie schon das grüne Foyerglas die Festivalwelt und die Welt da draußen unauffällig, aber nachhaltig teilt.
Schade. Denn so wird Luzern als Lucerne Festival nie zu einem Wir-Gefühl, zu gemeinsam erlebten Konzerten führen. Und somit seine Identität nur in der dicken Programmbroschüre auch unter wieder wechselnden Motti behaupten.
Der Beitrag Lucerne Festival V: Grünes Foyerglas teilt die Besucherwelten erschien zuerst auf Brugs Klassiker.