Er hat einen durchaus tänzerischen Ausdruck am Cello wie in seiner Art, Musik zu interpretieren, besonders wenn es um die oft von Tänzen durchzogenen Cellosuiten von Johann Sebastian Bach geht. Sie liebt als Choreografin nicht nur gute Musik, alte wie neue, hat Opern zum Tanzen gebracht und bewegt sich besonders gern zu Liveklängen. Wie sie das etwa auch zur berühmten d-moll-Chaconne aus Bachs 2. Partita für Solovioline getan hat. Für die Solosuiten Bachs für Cello BWV 1007-1012 haben sich jetzt Jean-Guhien Queyras und Anne Teresa de Keersmaeker zu einem dreistündigen Gipfeltreffen zusammengefunden, das auch noch eine weitere Tänzerin und drei Tänzer als Mitwirkende verzeichnet. Morgen ist bei der Ruhrtriennale Uraufführung, dann wandert „Mitten wir im Leben sind / Bach 6 Cellosuiten“ unter dem Motto des Martin-Luther-Lobgesangs in einem weiten Tourneekreis durch Konzertsäle und über Tanzbühnen. Der sanfte, aber auch sehr zupackende Kanadier mit dem weichen, freien, aber auch sehr profilierten, singenden, leuchtenden Celloton, er hat zudem vor zehn Jahren diese Inkunabel aller Cellisten für harmonia mundi eingespielt. Das Set gilt bis heute als eines der besten dieses Sextetts. Und die 57-jährige Belgierin, die durchaus spröde und solipsistisch sein kann, wird trotzdem für fast jedes ihrer Werke mit Superlativen bedacht. Da liegt die Messlatte sehr hoch, aber man kann sich sicher sein, dass sich beide dessen bewusst sind.
Der 50-jährige Queyras hat seine Karriere begonnen, ohne sich zu überstürzen. Er studierte in Lyon, Freiburg und New York. 1986 gewann er den Prix Jeanne Marx beim Concours de violoncelle Rostropowitch in Paris sowie den dritten Preis des Internationalen Musikwettbewerbs der ARD in München und 2002 den City of Toronto Glenn Gould International Protégé Price in Music. Er war mehrere Jahre Mitglied des von Pierre Boulez gegründeten Ensemble InterContemporain in Paris. Er tritt mit bedeutenden europäischen Orchestern auf und arbeitet intensiv kammermusikalisch, etwa mit Pierre-Laurent Aimard, Leif Ove Andsnes, Isabelle Faust, Emmanuel Pahud, Jean-Yves Thibaudet und Lars Vogt, auch im Trio mit Daniel Sepec und Andreas Staier.
2004 gründete er – gemeinsam mit den Geigern Antje Weithaas und Daniel Sepec und der Bratschistin Tabea Zimmermann – das Arcanto Quartett, welches schnell Einladungen in die großen Konzertsäle Europas, Israels, Japans und Nordamerikas erhielt und einige CDs veröffentlichte. Queyras spielte u. a. Uraufführungen der Cellokonzerte von Ivan Fedele, Bruno Mantovani und Thomas Larcher sowie des Concertino von Gilbert Amy. Für das Projekt Six Suites – Six Echos beauftragte er die Komponisten György Kurtág, Jonathan Harvey, Minoru Mochizuki, Gilbert Amy, Ichiro Nodaïra und Ivan Fedele, jeweils ein Werk mit Bezug auf eine der Cellosuiten Bachs zu komponieren. 2016 veröffentlichte er das Album „Thrace: Sunday Morning Sessons“, das er gemeinsam mit dem griechischen Lyraspieler Sokratis Sinopoulos und zwei orientalischen Perkussionisten, Bijan & Keyvan Chemirani, einspielte. Gefeiert wurde er zudem für seine Interpretation des Cellokonzerts von Robert Schumann im Rahmen eines von Konzerten begleiteten harmonia-mundi-Projekts aller Schumann-Konzerte mit Isabelle Faust und Kirill Melnikov, das zudem die drei Klaviertrios umfasste.
Queyras unterrichtete an der Hochschule für Musik Trossingen und ist gegenwärtig Professor an der Freiburger Hochschule. Er spielt ein Cello von Gioffredo Cappa , das 1696 angefertigt wurde, also älter ist als die Bach-Suiten, er spielt aber mit Stahlsaiten und einem modernen Bogen – den auf einem Promo-Foto ziemlich herausfordernf die Choreografin hält.
Muss man aber Bach vertanzen? Warum nicht? Seine Musik ist immer auch eine Feier des Lebens, gerade auch in der konzentrierten Form der Cellosuiten, die als Meilenstein in der Geschichte der westlichen Musik gelten. Die intellektuellen und architektonischen Elemente erinnern weiterhin an zeitgenössischen Reiz, mit ihrer rhythmischen Vitalität und melodischen Kompliziertheit. Queyras setzte bereits in seiner durchaus schnell genommen Einspielung ein Exempel an Klarheit und Geschmack. Selbst bei sehr raschem Tempo scheint die Musik bei ihm nie gehetzt oder mechanisch abgespult. Sie atmet, hat immer ihren lupenrein intonierten Zielpunkt. Sie lebt in jeder Note und ist voller Poesie. Man kann nicht gedanklich abschweifen. Die Noten sprechen.
Wie kleine Verzierungen wirken sie, leichtfüßig, aber dennoch klar, wie Nebensätze im ungestört weiterlaufenden Hauptsatz. Feinfühlig wird Agogik eingesetzt. Das Tänzerische treibt diese Interpretation voran. Die Sarabanden sind würdig, aber nie schwerfällig. Sowohl die horizontale Polyphonie als auch die vertikale Mehrstimmigkeit findet eine zwanglose, mit sinnlicher Freude erfüllte, unangestrengt wirkenden Wiedergabe. Hinzu kommt die ungeheure dynamische Bandbreite von kräftigem Forte bis hin zu fast gehauchtem Piano. Auch dadurch erreicht Queyras die so außerordentlich erlebbare polyphone Wirkung vieler Stellen, die zu singen, ja zu sprechen beginnen.
Johann Sebastian Bachs Cellosuiten wurden schnell zu den Höhepunkten der westlichen Musikgeschichte gezählt. Aber sie waren nie fern auf ein Podest verbannt, sondern luden immer auch zum Experimentieren ein. So hat beispielsweise Cello-Superstar Yo-Yo Ma sechs hinreißende, mit vielen Preisen ausgezeichnete Filme gedreht, in denen er sich jeweils einer anderen Suite mit Hilfe von Architekten, Gartengestaltern, Choreografen, Eistänzern oder einem Kabuki-Darsteller nähert. Ihre erfindungsreiche Architektur, ihre tänzerische Rhythmik und zeitlose Schönheit sprechen uns auch heute noch an.
Anne Teresa De Keersmaekers Affinität zu Bach zeigte sich schon in verschiedenen früheren Produktionen. Sie strebt nach einer choreografischen Handschrift, die die Essenz von Bachs musikalischer Sprache zu erfassen versucht. In dieser Produktion werden deshalb die sechs Suiten live ausgeführt, bearbeitet, befragt und getanzt. Jeder Suite geht ein kurzes Werk György Kurtags voraus. Die faszinierende Symbiose von Musik und Tanz soll sowohl das Wesen jeder einzelnen Suite für sich wie auch ihre Wechselwirkung in der Gesamtheit des Zyklus enthüllen.
Anne Teresa De Keersmaeker, die von Jean-Guhien Queyras zu diesem Projekt explizit eingeladen wurde, möchte nach über 33 Jahren, die sie manche ihrer Werke inzwischen schon selbst tanzt, hier auch ganz bewusst nach einer neuen, einfachen Bewegungssprache suchen, die sie die nächste Dekade ausfüllen und meistern kann. Nach der Überraschung dieses Angebots sieht sie es jetzt als Ehre wie als Herausforderung, sich gemeinsam mit Queyras diesem Bach-Gipfel zu stellen.
Ob er gelungen ist, kann man nach der der Premiere in Gladbeck dort bis zum 31. August erleben. Dann wandert die Produktion in die Hamburger Elbphilharmonie (3. September), nach Brüssel (23.-27. September), Brügge (24. Oktober), Antwerpen (15-18. November), ins Berliner Hebbel Theater (9.-13. Dezember), nach Gent (15-16. Dezember), Liège (8-9. Februar), Leuven (28-30. März), Lille (6.-7. April), Heidelberg (9.-10. April), Hasselt (2. Mai), Luxemburg (4.-5. Mai), Frankfurt (5.-6. Juli), Montpellier (4.-6. Juli), Amsterdam (9.-10. Juli) und Ludwigsburg (12. Juli). 44 Vorstellungen in einem dreiviertel Jahr!
Der Beitrag Queyras und de Keersmaeker: Mitten wir im Leben sind / Bach 6 Cellosuiten erschien zuerst auf Brugs Klassiker.