Ja, er ist augenblicklich gefragt. Unheimlich gefragt. Deshalb ließ er in seinem Salzburger Konzert das Publikum und die Mitwirkenden in der Felsenreitschule eine gefühlte Ewigkeit warten, bevor er im Dunkeln das Podium betrat. Bei der „Titus“-Premiere ließ er sich ebenfalls durch die Schwärze von einer Taschenlampe führen. Und in der Berliner Philharmonie, wo Teodor Currentzis mit seinem Chor und Orchester MuicAeterna eben im Rahmen des Musikfestes tourneeauftrat, da ziehen sie zu leisem Glockenklang mit Kerzen ein. Er und der Chor. Kunstmönche, zum Teil in Kutten, sie alle. Scheinbar bescheiden mischt er sich dazwischen, alle formen sich zum Kreis, die Frauen starten mit Musik von Hildegard von Bingen. Später wird eine Gambe tönen und eine nicht sonderlich gut gespielte Orgel. Und nur menschliche Stimmen schwingen sich dazu durch den Raum. Das hat große Magie, egal ob die Musik von Purcell oder Pärt, Schnittke, Ligeti oder Strawinsky ist. Sie hat es was gleichmacherisch Menschenfängerisches, soll alle bannen und überwältigen. Was auch gelingt. Kaum einer atmet, hustet gar, bis Currentzis der Große es tut. Natürlich wieder in schwarzer Hemdbluse, ebensolcher, knackenger Strechjeans und den obligatorischen Bergstiefeln mit den signalroten Schnürbänder. Die Haare fliegen, die Hände malen Kringel in den Raum. Hier ist einer so deutungsüberbetont bei der Chordirigiersache, dass sich einem schon beim Zuhören der Atmen verknotet. Aber der Chor strömt, tönt, die Stimmen verblenden sich, manchmal in scharfer Reibung – magisch. Herrlich hell das „Salve Regina“ von Arvo Pärt. Zu Purcells „Remember not, Lord“ gehen die Sänger Richtung Podiumsrampe bewegten, umrahmen das Anthem mit von Peter Sellars abgeschauten Eurhythmiegesten des Bittens und Fürchtens, Currentzis aber sitzt sinnend am Rand, lässt es geschehen. Und hat doch alle Klangfäden in den regungslosen Händen. Man kann das auch Kitsch nennen.
In der zweiten Hälfte dann das Mozart-Requiem. In Salzburg hat man sich offenbar noch mehr auf die Plattenaufnahme von 2011 verlassen, jetzt ist das Tempo noch einmal angezogen, das Werk klingt wie eingeschlossen, harsch, kantig, schroff. Nichts ist da von Erlösung und Tröstung zu spüren. In Sterben bäumt man sich nur auf – als grandios packende Inszenierung. Nicht ganz sauber freilich. Der weit auseinanderstehende Chor, das überagierende Orchester (auch in Kutten, stehend) mit seinem irritierend blonden, wild herumhüfenden Konzertmeister-Einpeitscher, sie kommen nicht immer zusammen. Das ist ein zu viel an Wollen und Emotion, was nun wie ausgestellt wirkt. Immerhin schaffen es die Sänger, an der Spitze die schwerer werdende Julia Lezhneva und der Bass Tareq Nazmi (der auch schon in Salzburg dabei war), ein wenig rituelle Ruhe in diese eher aufwühlende Totenmesse zu bringen.
Schöne, kalkulierte Ruhe dann wieder freilich in der Zugabe, Bachs „Komm, süßer Tod“, in der Bearbeitung von Knut Nystedt mit fünf vierstimmigen Chören, die gleichzeitig in verschieden gedehntem Tempo vorgetragen, die Zeit zum Stillstand zu bringen scheinen. Ein großer Chordiktator hat überwältigend gesiegt. Gleichzeitig hat sich Theodor Currentzis, der ja in Perm von russischem Kapital unterstützt wird, eben sehr dezidiert für den absurd angeklagten Kirill Serebrennikov ausgesprochen. Das ist ihm anzurechnen. Wie sein generöses Können. Das eben immer wieder in Selbststilisierung umschlägt. In jedem Falle eine neuerlich faszinierende Begegnung.
Der Beitrag Teodor Currentzis in Berlin: Das durchkalkulierte Anderssein erschien zuerst auf Brugs Klassiker.