Das Warm Up und Antanzen geht heiter weiter. Wo andere wissen, dass man als neuer Intendant in Berlin mit einem Erdbeben als Ouvertüre beginnen muss, um sich dann zügig zu steigern, bestückt ausgerechnet der von der öffentlichen Meinung wie von den Kulturpolitikern gebeutelte Theater-Quereinsteiger und Kunst-GröFaZ Chris Dercon seine Volksbühnen-Plattform nur langsam – und das zudem lediglich auf der Nebenspielstätte Flughafen Tempelhof. Da darf der in der Stadt bereits reichlich oft gesehene Boris Charmatz sein Musée de la Danse eröffnen und sich ein wenig in die Herzen der mitmachwilligen Berliner tanzen; das aber alles sicher nicht zum Salär eines Bezirksmitarbeiters, der ein wenig angewandtes soziokulturelles Entertainment für Kinder, Hausfrauen, Langzeitarbeitslose, aktive Rentner und über üppig Zeit verfügenden Kulturbetriebsnudeln anbietet. Nach der sonntäglichen Vorfeld-Massenbespaßung, die zudem als Werbeplattform für diverse Berliner Tanzschaffende dienen durfte und auch zwei Kurzauftritte von Anne Teresa de Keersmaeker beinhaltete (die freilich ihr neuestes, gehaltvolles Bach-Stück im Dezember wieder im angestammten HAU zeigen wird), rieft Charmatz nun zum Dancer’s Day in den etwas kleineren, aber immer noch genügen Auslauf bietenden Hangar 5 – sechseinhalb Stunden lang, soll hier quasi der Alltag eines Tänzers theatralisch überhöht werden. Herr Dercon mit Schal strahlte über so viel Aktivismus, und auch seinen Programmbeauftrage Marietta Piekenbrock, die ihre eigenen, auf Französisch geführten Interviews von anderen ins Deutsche übersetzen lässt, hatte zur Feier des Tages ihre Goldpantoffel angezogen, in denen sie, wie ihr Chef, garantiert nicht partizipationsgeeignet ist.
Um 16 Uhr konnte die Halle betreten werden und das betrachtet werden, was von Francis Kérés schon lange für Schlagzeilen sorgendem, fahrbarem Sattelitentheater übrig geblieben ist. Nachdem die Lottostiftung die Mittel erst verweigert und dann nur gekürzt herausgerückt hatte, wurden jetzt von dem Stararchitekten aus Burkina Faso ein paar Pressspanplatten und Eisengitter zur amphitheatralischen Tribüne mit blauen Sitzkissen zusammengetackert, 300.000 Euro soll es gekostet haben. Immerhin sitzen wir jetzt auf einer „Präambel“ bzw. einem „Prolog“ so jazzt ihr Erfinder auf dem Beipackzettel seine „Utopie“ hoch.
Um große Worte ist man in dieser Volksbühne nie verlegen (das war aber auch schon in der alten so), doch die Taten lassen nach wie vor auf sich warten. Vor schütter besetzten Reihen, machen ein paar Leute auf einem Tanzboden Aufwärmübungen, um 17 Uhr startet Charmatz mit seinem süßen Baguette-Akzent seinen Publikumsworkshop. Man probt ein paar der später als professionelle Uraufführung annoncierten „10000 Gesten“, „und jetzt bitte ‚weiß nicht, was’“, ruft Charmatz – ‚n’importe quoi’ – bereits Geprobtes ab. Nichts soll sich wiederholen, alles ist eine Geste und jeder kann tanzen – sowieso. Die Kultursenatorin a.D. Adrienne Goehler macht ein paar Minuten mit, aus ganz Deutschland sind Tanzbetriebsprofis angereist, um wenigstens inaktiv zu partizipieren; auch Dercons Anwalt schaut zu.
Man ist hier pünktlich. Um 18 Uhr werden wir von den Tribünen gescheucht, jetzt ist Picknick angesagt. Helferlein verteilen karierte Plaids in der im Abendschein durchaus heimeligen Halle. Doch die meisten zieht es zum Essen in das nüchterne Café, wo es lieblos gepackte Lunchtüten für fünf Euro mit Bifi und Salzbretzeln gibt. Nur Tino Sehgal samt Familie geht mit gutem Künstlerbeispiel sitzend und futternd voran, freilich nicht sehr korrekt mit Käse in Plastikfolie! Er hat sich übrigens den nackten Mann ausgedacht, der als „(Ohne Titel) (2000)“ nun zwischen den freundlich blickenden, wieder zahlreicher in die Halle strömenden Zuschauern hüpfend seine Kreise zieht. Um 18.50 Uhr gibt es dann einen generös missachteten „Common Sleep“ als nächsten Programmpunkt; die jetzt eingetrudelten Tänzer singen dazu leise und liegend Elvis’ „Can’t help Falling in Love“. Charmant. Aber auch sehr harmlos.
Um halb acht startet dann „10000 Gesten“. Mozarts Requiem knallt leicht verfremdet aus den Boxen, erst hüpft eine Tänzerin in Cheerleader-Outfit allein herum, dann entern weitere 20 Mitwirkende die jetzt silberspiegelnde Szene. Es gibt effektvolle Schrittkombos, jeder macht solipsistisch seine eigenen Linien, die wohl auch als Gesten durchgehen sollen, wie viele auch immer das sind. Wir haben sie nicht gezählt. Schräg und schrill sind die Kostüme zwischen Unterhose, Seventies, Showdress und Burkini der effektvoll diversifizierten Performer. Es wird munter geschrien, kommt immer gut.
Das geht eine knappe Stunde, sieht supi aus in der riesigen, von rechts außen grell beleuchteten Halle. Mozart aber hat dieses Plimplum nichts entgegenzusetzen. Dann startet an der gegenüberliegenden Stirnseite neonblitzend DJ T. Raumschmiere mit Technobeats den Dacefloor, das Kulturvölckchen, es haben sich auch ein paar Stargaleristen von der beginnenden Art Week darunter gemischt, zieht es aber zur Biertränke. Etwas früher als angekündigt ist allgemeiner Tanzschluss, schließlich dauert das Finale (und der einzige wirkliche künstlerische Höhepunkt) dieses überlangen Dancer’s Day) noch einmal 50 Minuten. Die sind es aber endlich wert, auszuharren und zu staunen: Odile Dubocs Slowmotion-Version des Ravel-Bolero gerät Boris Charmatz und Emmanuelle Huynhs, im Dämmerschein auf einem hohen Podest ausgestellt, sich verschlingend und verschmelzend, als „étrangler le temps“ zum faszinierenden Liebesakt der Langsamkeit – sinnlich, erotisch und total keusch zugleich.
Und doch wurde man bis zum Ende das Gefühl nicht los, an einer allzu lässigen Betriebsfeier zur Einweihung der neuen Volksbühne teilgenommen zu haben. Chris Dercon und die Seinen haben noch wohl einen weiten Weg vor sich…
Der Beitrag Volksbühne reloaded: Boris Charmatz lädt zum Dancer’s day als überlange Betriebsfeier erschien zuerst auf Brugs Klassiker.