Ich weiß es noch sehr genau. Ich war 12 Jahre alt, da wurde im Radio gemeldet, dass Maria Callas gestorben sei. Die Diva war im Alter von nur 53 Jahren tot in ihrem Pariser Appartement aufgefunden worden, sie sei am Ende sehr vereinsamt gewesen, hieß es. Am 16. September 1977 war das. Maria Callas. Irgendwie hatte ich den Namen schon mal gehört. Und dann musste ich mich – Internet war ja noch ein Fremdwort, Google ein ferner Planet – durch einen Müll von Skandalberichten bis zu ihrer eigentlichen Kunst durchwühlen. Das waren damals schon, mit ausdrucksstarken, theatralischen Fotos, die einen sofort faszinierten, ihre alten EMI-Platten. Die Hüterin ihres klingenden Erbes hatte das immer vorrätig gehalten, es verkaufte sich ja noch blendend. In der Dämmerung des LP-Zeitalters fanden sich die bald auch in den Grabbeltischen, bei Zweitausendeins, in der legendären Höhle des Disco-Centers am Marienplatz. Meist die amerikanische Angel-Ausgaben, wo man nach jeder Seite die Platte komplett wechseln, um am Ende alle drei wieder von vorn umgedreht auflegen musste, da sie für die damals modische Turmbespielung mit den fallenden Vinylscheiben gedacht waren. Aber was für ein Schatz schallte einem da entgegen! Die kompletten Rezitals hatte ich zum Beispiel in einem Günstig-Koffer von EMI-France erworben, sogar mit einem opulente L’Avant-Scène-Buch, eingelassen in ein graues Schaumstoffbett. Meine Lieblingsplatte? Callas singt Wahnsinnsszenen. Nur meine Schwester im Zimmer daneben mocht das nicht so…Daran erinnerte ich mich wieder, als die Rechte-Nachfolger bei Warner vor drei Jahren die komplett remasterten Studioaufnahmen herausbrachten – immerhin 69 CDs und eine CD-Rom für die Libretti. Damals hatte man in jahrelanger Putzarbeit die Originalbänder gereinigt, und es war nach diversen Verbesserungen an späteren Ausgaben ein viel weicherer, transparenterer, nicht mehr so klirrender Klang, in den eingebettet diese einzigartige Stimme einen erreichte. Die archäologischen Mühen hatten sich also gelohnt. Und das gilt fast noch mehr für jetzt weitere 42 CDs mit nicht allen, aber den bedeutendsten Live-Mitschnitten sowie drei Blurays mit den wenigen Filmaufnahmen von TV-Übertragungen. Und auch wenn die zwölf Jahre ihrer ganz großen Sängerinnenkarriere erst 65 Jahre zurückliegen, sie kommt uns klingend wie Cleopatra aus ihrer imaginären Pyramide: eine Pharaonin der Oper, uralt, aufmerksamkeitsheischend, faszinierend.
Denn natürlich vermitteln einem die Livemitschnitte (ein Wunder, dass es die überhaupt alle gibt, obwohl immer noch nach einigen angeblich verlorenen fahndet wird), die Callas noch unmittelbarer, näher, spontaner. Man erlebt ungeschnitten, im Rausch und oft der Weißglut einer Aufführung (etwa mit dem legendäre hohe Triumphakt-Es in den „Aidas“ aus Mexiko als Duellangriff auf den dummen Tenor, das sie 1951 neben Mario del Monaco wiederholte) das Tier, die Wildkatze, die Tigerin Callas, die sich in der Hitze einer Vorstellung fast verbrannte, die sich aber auch intuitiv und unendlich sensibel in ihre Rollencharaktere hineintastete. Und man meint sie jetzt wirklich direkt neben sich singen zu hören: Logenplatz Bühne sozusagen. Es ist unglaublich, was die Ingenieure aus dem zum Teil grottigen Material herausgeholt haben.
Noch einmal schön, aber nicht ganz so opulent und wertig wie die Vorgängerkiste verpackt, hört man zwar nichts Neues, aber das in bestmöglicher Art. Und als wirklich notwendige Ergänzung zur quasi offiziellen Lesart des Studiovermächtnisses, das die Warner mit den früher schon unter diesem Firmendach versammelten Cetra-Aufnahmen nun besitzt und – obwohl die Rechte abgelaufen sind, jeder seine Callas pressen kann, hier wirklich optimal angeboten wird.
Natürlich sind da einige EMI-Klassiker dabei, die schon früher quasi eingemeindet waren: das Scala-Gastspiel unter Herbert von Karajan mit „Lucia di Lammermoor“ im Berliner Theater des Westens von 1955 etwa oder die längst schon zum Theaterstück gewordene Lissaboner „Traviata“ von 1958, weil die EMI, die mit ihr nie mehr im Studio realisieren konnte. In einer frühere Auflage mit angekauften Live-Mitschnitten gab es freilich auch eine offizielle Version des Scala-Mitschnitts unter Giulini; und meine Lieblings-„Traviata“ mit ihr, fragil und unerhört anrührend, mit dem zarten Alfredo von Cesare Valetti, ist sowieso der Londoner 1958er Mitschnitt unter Rescino. Aber es gibt eben auch viele essenzielle Rollen, die La Callas nie im Studio gesungen hat, Donizettis Anna Bolena, Bellinis Imogene in „Il Pirata“ Spontinis „La Vestale“ und Verdis Lady Macbeth (jetzt auch mit dem richtigen Finale erster Akt, wo früher fälschlicherweise von Piraten eine etwas besser klingende Aufnahme mit Leyla Gencer eingeklebt worden war). Es finden sich kuriose Dinge, wie der sehr frühe venezianische „Parsifal“ mit ihrer italienisch sinnlichen Kundry, und die beiden Gluck-Opern „Ifigenia in Tauride“ und „Alceste“, die sie mit Luchino Visconti erarbeitete. Aus dem Zeitgeist herausfallende Belcanto-Porträts finden sich, wie die „Nabucco“-Abigaile von 1949 als kraftstrotzende Dampframme, das virtuose Koloraturwunder der Elena in den „Vespri siciliani“ unter Erich Kleiber von 1951 oder die stilistisch fragwürdige Rossini-Ausgrabung „Armida“ ein Jahr später, die sie aber mit zirzensischem Leben füllt.
Und man möchte natürlich auch Donizettis „Poliuto“ nicht missen, oder den kompletten „Andrea Chenier“. Und man hofft immer noch, dass eines Tages doch noch ein komplettes Band ihres „Don Carlos“, von „Orfeo ed Euridice“ oder „Der Entführung aus dem Serail“, „Walküre“, „Tristan und Isolde“ oder „Fedora“ gefunden wird. Man erfreut sich natürlich auch an den himmlischen Doubletten zum Studio-Kanon, eben der „Aida“ und dem so vitalen „Rigoletto“ aus Mexiko, wo sie so fantastisch bei Stimme war, der Londoner „Norma“ von 1952, der Scala-„Medea“ und „La Sonnambula“ unter Leonard Bernstein und dem so traurigen wie tollen Schwanengesang ihrer letzten Londoner „Tosca“ von 1964. Fans werden jetzt noch nach vielen weiteren, verfügbaren Doubletten ihrer klassischen Rollen rufen, die Warner doch bitte bearbeiten möchte, aber man kann auch mit diesen nun 111 CDs (!) zufrieden sein. Keine andere Sängerin hat ein ähnlich qualitätsvolles, hörenswertes Paket hinterlassen.
Interessant, obwohl auch bei den Bildaufnahmen der Konzerte in Hamburg und Paris sowie den beiden zweiten „Tosca“-Akten das letzte an technischer Brillanz herausgeholt worden ist, als visuelle Figur wirkt Maria Callas heute fast altmodischer als in ihrer sehrenden, sensitiven akustischen Präsenz, die jetzt quasi komplett auf dem Silbertablett ein immer noch staunenden, oder sie wieder neu entdeckenden Nachwelt vorgelegt wurde. Diese Kerze mochte wirklich an zwei Enden brennen, wie es Ingeborg Bachmann im immer noch schönsten Nekrolog auf dieses Jahrtausendsängerin formuliert hat, von der kein Ton verblasst ist, weniger bedeutend geworden wäre, aber sie hat dabei eine Menge köstlichsten Wachses hinterlassen. Kunst gewordene Göttlichkeit. Um die wir uns gerade heute wieder in tiefer Verehrung scharren. Viva Maria!
Der Beitrag Zum 40. Callas-Todestag: Marias klingenden Erbe ist fast komplett blankgeputzt erschien zuerst auf Brugs Klassiker.