Erst kommt der Künstler. Er darf sich im Applaus seines ihm stehend zujubelnden Publikum zum Platz begeben, dann erst folgen König Willem-Alexander und Königin Máxima. Ein schöne Geste für den am 11. Juli, also in der Sommerpause 85 Jahre alt gewordenen Hans van Manen, der jetzt – wie in England die Queen – seinen Geburtstag zu einer besseren Jahreszeit theatralisch nachfeiert. Er tut das mit einer „Ode to the Master“, die ihm das Het Nationale Ballet im Amsterdamer Opernhaus ausrichtet. Die ist eigentlich nur vierteilig, aber zur Premiere gab es noch ein weiteres beziehungsreiches Goodie, eine drei Jahre alte van-Manen-Hommage an einen befreundeten „Master“, Martin Schläpfer vom Ballett am Rhein, in der sich der weltberühmte Choreograf natürlich auch selbst feiert.
Eine wahrhaft royaler, dabei angenehm unprätentiöser Abend, feierlich, nie selbstherrlich, vor allem faszinierend in seiner Frische, mit der sich dieses Œuvre darbietet, gespiegelt in dem Werk-Quintett aus der wohl längst „klassischen“ Phase zwischen 1977 und 2014. Hans van Manen, der am Ende behend und geradlinig wie immer zu seinen Tänzern eilt und sich knapp verbeugt, ist (nicht nur) in den Niederlanden ein ganz Großer, einer der den zeitgenössischen Tanz viel stärker als anderswo im Alltag verankert hat. Er, der sich immer auch politisch geäußert und zudem in seinen Jahren als Fotograf (hinter der Kamera ist er, im Gegensatz zum Tanz, nicht mehr aktiv) ein noch größeres, anderes Publikum erobert hat, ist in seiner Heimat immens populär, hat längst sämtliche nur möglichen Orden und Ehrenzeichen erhalten. Mindestens eine Doppelseite und mehr gab es zu dieser Premiere vorab in den Zeitungen.
Und trotzdem: In Deutschland könnte man sich eine solche Zuwendung zum Tanz von Seiten der Regierenden (wenn auch Machtlosen) kaum vorstellen. Doch die jetzige Prinzessin Beatrix, die sich die van Manen-Karriere stets verfolgt hat (im Foyer des Opernhauses hängt ein witziger Schnappschuss mit ihr und van Manen beim Pausenlachs-Schnabulieren) hat die Saat offenbar auch in ihrer Familie aufgehen lassen. Doch etwa Angela Merkel beim 80. Geburtstag von – sagen wir mal – John Neumeier? Never!
In Amsterdam wurde freilich nicht nur gefeiert, sondern auch glorios getanzt. Und das schon im neu ins dortige Repertoire gelangten Auftaktstück „On the Move“ (1992) zum nervös-narkotischen 1. Violinkonzert Sergej Prokofiews, von Liza Ferschtman ebenso gespielt. Denn es zeigt alle van-Manen-Tugenden. Eine sofort fassbare Stimmung, herrlich ausgekostete Raumformationen im Dämmerschein, feinsten Musikalität, unaufdringliche Schrittfantasie, überraschende Kontraste, einen untrüglichen Ausstattungsgeschmack. Denn der famose Keso Dekker hat vor dunklem Hintergrund und transparent wehenden Seitenschleiern die fünf Gruppenpaare in karmesinfarbene, braune, wasser- und taubenblaue sowie moosgrüne Ganzanzüge mit Paspeln gesteckt; das Hauptpaar trägt kardinalsrot, das zweite, das aber viel majestätischer wirkt, schwarz.
Das ist wirklich on the move, stoppt nicht und kommt trotzdem nicht außer Atem. Einst für das Nederlands Dans Theater ersonnen (wo van Manen auch mal Hauschoreograf war, er wechselte geschickt zwischen dort und dem Nationalballett hin und her, wo er seit 2005 wieder fester assoziiert ist) sehen die Frauen selbst auf halber Spitze superelegant aus. Beide Geschlechter werden hier gleichwertig behandelt, nicht als Ballerina und Kavalier, wie so oft noch bei seinem erklärten Vorbild George Balanchine. Quian Liu und Edo Wijnen tanzen das fast soubrettenhaft fröhlich und geschmeidig schnell, Igone de Jongh und Artur Shesterikov sind ganz Huld und edle Linie. Hinreißend!
Im zweiten Teil folgen die verspielten Variationen über eine Marschchoreografie „Simphonieën der Nederlanden“ (1987) auf die gleichnamige Louis-Andriessen-Komposition, vom Het Balletorkest unter Matthew Rowe mit Verve intoniert. Van Manen übersetzt hier Andriessens minimalistische Loops in augenzwinkernde Gleichschrittformationen, die immer wieder aufgebrochen werden, zwischen revuehaft und martialisch oszillieren. Die 24 Tänzer in blauen Hosen mit schwarzweiß halbierten Oberteilen (ebenfalls von Keso Dekker, beim anschließenden Empfang wie immer an seinen bunten Sneakers zu identifizieren) exerzieren das mit Spaß und Schmackes, dürfen auch mal den Trommler markieren und aus der Reihe fallen.
Der ironische Paarkampf „Sarcasmen“ (1981), der Prokofiews gleichnamige Klavierminiaturen stimmungsmäßig vollkommen umsetzt, ist längt ein van-Manen-Gustostück für Galaabende, hat aber nichts von seiner brillanten Schlagkraft verloren. Erst buhlt Er um die unlustige Sie, dann versucht diese ihn zu becircen, was mit einem beherzten Griff in seinen Schritt endet; schließlich macht man mechanisch die Beine breit. Zweisamkeit: Gähn! Selten wurde das lakonischer, grandioser gezeigt. Igone de Jongh und Marijn Rademaker tanzen das mit souveräner Nonchalance, könnten aber die Erinnerung an die funkelnden Uraufführungsinterpreten Rachel Beaujean (inzwischen hier Kodirektorin und natürlich für die Einstudierung verantwortlich) und Clint Farha nicht vergessen machen.
Davor aber gab es – „Alltag“. Martin Schläpfer schiebt unlustig einen Stuhl herein, setzt sich, grübelt, es fehlt ihm die choreografische Eingebung. Fetzen aus Mahlers 7. Sinfonie sind zu hören, überlagern die Klaviermusik. Seine Muse Marlucia do Amaral bemüht sich vergeblich, ihn zu inspirieren. „Du bist die Ruh“, singt dazu Gundula Janowitz Schubert. Mitnichten. Die Kreation muss aus ihm raus. Er versucht es konkret und körperlich mit einem jungen Paar, Alexandre Simoes und Doris Becker, Bewegungen werden lebendiger, flüssiger, schließlich emanzipieren sich Ideen und Tanz. Der Choreograf lässt los, bleibt allein zurück. Das ist nur schraffiert, enthält aber sehr viel Wahrheit. Weil van Manen hier zunächst mit dem Werk des Freundes spielt, aber dann dessen Tänzer Bewegungen aus einem eigenen Stück vollführen lässt, die sich verselbstständigen.
Van Manen und Schläpfer, Freundschaft, auch das Gefühl, einen Nachfolger im Geiste gefunden zu haben, verschmelzen hier. Und es wird besonders anrührend, wenn man weiß, dass der nunmehr 57-jährige Schläpfer hier wohl zum allerletzten Mal selbst als Tänzer auf der Bühne gestanden ist. Dem van Manen (er kann auch böse sein!) viel mehr abverlangt als etwa in „The old man and me“. Schläpfer lässt mehr als nur die schönen Reste seiner Ballerinovergangenheit und bannenden Bühnenpräsenz aufblitzen. Und so reflektiert sich hier auch Hans van Manens starke Beziehung nach Deutschland. So wie auf der Party hinterher aus Stuttgart (quasi seiner zweiten Heimat) nicht nur Ballettdirektor Reid Anderson und sein Nachfolger Tamas Detrich angereist sind, sondern auch die 89-jährige Georgette Tsinguirides, die nach legendären 72 Dienstjahren eben in den Unruhestand getreten ist.
Doch zuvor gibt es im dritten Teil noch als Rausschmeißer den van-Manen-Klassiker „5 Tango’s“. 1977 auf die Piazzolla-Musikidee gebracht von Kritiker Klaus Geitel, war er der Erste, bevor die Latinowelle hochschwappte. Und der Beste. Die faszinierend intelligente, makellose Mischung aus Kontrolle und Temperamentexplosion im Verein mit den unterkühlten Schwarz-Rot-Kostümen von Jean-Paul Vroom begeistert einmal mehr. Weil sie von Maia Makhateli und Daniel Camargo an der Spitze lustvoll getanzt werden, aber auch weil sie das Sexte Canyengue mit dem Bandoneonspieler Carel Krayenhoof live aufführen; was die Spannkraft noch einmal steigert.
Man zieht nach diesem tollen, beglückenden, in seiner Vielfalt schillernden Abend wieder einmal als Fazit: Hans van Manen wurde in einem günstigen Moment geboren. In Holland erstarkte nach dem Krieg der Tanz, er hat ihn stets mit der Gegenwart in Berührung gebracht, hat viel mit den Schwesterkünsten experimentiert. Doch jene seiner 150 Stücke, die bleiben werden, atmen bei allem Zeitgeist eine neugierige Klassizität, ein Wissen um Geschichte und Tradition, das bruchlos erweitert und fortgesetzt wird. Und das als künstlerische Geste und Statement mit dem spezifischen Hans-van-Manen-Touch noch heute völlig modern und damit wohl zeitlos geworden ist. Klassisch eben.
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