Extravaganteres wurde wohl kaum je von einer Sopranistin verlangt. Sie muss sie nicht nur gegen ein spätromantisches Orchester mit massiv Blech, Orgel, Klavier, Celesta, Harmonium, Gitarre und vielfach geteilten Geigen in höchsten Lagen durch einer der schwierigsten Partien ihres Fachs behaupten; manche vergleichen das damit, als ob auf die „Madama Butterfly“ gleich noch die „Turandot“ folgen würde. Nein, diese Königin nicht nur der exaltierten Töne und sinnlichen Legatolinien soll große Teile des ersten Aktes auch noch in strahlend schöner, ja göttlich keuscher Nacktheit verbringen, schließlich zeigt sie sich so dem faszinierenden Eindringling, den ihr hartherziger Gatte zum Tod hat verurteilen lassen, weil er dem Land das Licht und die Liebe hatte zurückbringen wollen. Und schließlich muss die mit salonerotisch abgeschmeckten Tönen lockende leading lady im dritten Finale eben diesen Mann als Toten erwecken. Doch es sind nicht nur diese gelinderen Schwierigkeiten, die Erich Wolfgang Korngolds „Das Wunder der Heliane“ zu einer extrem raren Bühnenerscheinung haben werden lassen. Bis vor kurzem.
Und trotzdem: Daumen runter über so manches Opernhaus, das ein Jahr nach der letzten „Hochzeit des Figaro“ schon wieder die nächste herausbringt und das noch dazu in einer schon mehrmals bewährten Regielesart, die sich kaum von der des Vorgängers unterscheiden wird. Klar, dass man da, obwohl man das entsprechend fähige und Strauss-gestählte Publikum hätte, auch noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg den anderen großen Korngold-Schmachtfetzen, „Die tote Stadt“ angesetzt hatte. An der Opera Vlaanderen in Antwerpen/Gent natürlich schon, weil das titelgebende Brügge nicht weit weg ist. Aber diese Kompanie ist zudem die einzige weltweit, die das noch schwülstigere, absurder anmutende, dabei vor herrlich expressiv-schillernder, freudianisch irrlichtender Superspätromantik überquellende „Wunder der Heliane“ nun bereits zum zweiten Mal im Spielplan hat. Und aktuell noch dazu in einer aufregend stimmigen Inszenierung, musikalisch ziemlich erstklassig aufbereitet.
Gerade Wunderkinder altern schnell. Das musste auch der von seinem allmächtigen Musikkritikervater Julius anfangs stark gepuschte Erich Wolfgang Korngold erfahren. 1920 hatte er als 23-Jähriger mit der nekrophil-psychogründelnden, atmosphäresatten „Toten Stadt“ an den parallelen Uraufführungsorten Hamburg und Köln einem dem Zeitgeist entsprechenden Sensationserfolg erlebt. 1927, als das von ihm und dem wirklich mediokren Librettisten Hans Müller-Einigen (der kurioserweise auch drei jahre später am „Weißen Rössl“ mitdokterte) als pseudomittelalterliche, christkitschige Parabel aufgeschmalzte „Wunder der Heliane“ ebenfalls in Hamburg herauskam, erntete er nur noch Kopfschütteln. Die großen Häuser wie Wien, Berlin und München hatten es zwar als Schaustück für ihre Primadonnen Maria Jeritza oder Lotte Lehmann bereits blind gebucht, und er selbst hielt den Dreiakter für sein bestes Werk. Aber schon 1928 half Heliane kein Wunder mehr: Sie blieb in der Kiste für abgelegte Opern. Bis eben 1970 in Gent.
Aber auch dann war wieder lange, lange gar nichts. Schellackplattenkenner delektierten sich wenigstens mit der chromatiküberzuckerte Arie „Ich ging zu ihm“ als sinnliches, ein wenig fetttriefendes Primadonnen-Gustostück für die Lehmann, Vera Schwarz oder jüngst wieder Renée Fleming. Immerhin hatte 1989 John Dew in seinen besten Bielefelder Jahren das komplette Werk durchaus mit Erfolg inszeniert. 1992 folgte dann die bahnbrechende Plattenaufnahme im Rahmen der „Entartete Musik“-Serie der Decca unter John Mauceri mit Anna Tomowa-Sintow, Hartmut Welker, Martin Petzold und Nicolai Gedda. Zuletzt gab es 2010/12 ein szenische Koproduktion zwischen Kaiserslautern und Brünn. Und jetzt plötzlich schlägt dieser Korngold wieder aus. Die Volksoper Wien spielte im Januar drei konzertante „Heliane“-Aufführungen, zwei folgten im Juli in Freiburg, die auch für eine CD mitgeschnitten wurden. Und nach den Gent/Antwerpener-„Heliane“-Vorstellungen inszeniert nicht nur der dortige Starregisseur David Bösch im Dezember an der Semperoper auch noch gleich „Die tote Stadt“, zu den krummen Spielzeit-Jubiläen des 120. Korngold-Geburtstags wie der 90. Wiederkehr des Uraufführungsabends bringt nächsten März sogar die Deutsche Oper Berlin eine weitere szenische „Heliane“-Produktion mit dem vielversprechenden Team Marc Albrecht/Christof Loy an die Startrampe.
Doch auch in Gent konnte sich hören lassen, was (wenn auch in etwas klanglich abgespeckter Form) aus dem von Alexander Joel beherrschten Graben drang. Das tönte süffig und trotzdem schroff expressiv, bisweilen allzu grob. Das machte alle Schleusentore des Klangs auf und ließ trotzdem niemand in dem süßherbem Schwall ertrinken. Wie urteilte Giacomo Puccini über seinen Komponistenkollegen: „Er hat so viel Talent, dass er uns mit Leichtigkeit die Hälfte davon abgeben könnte und trotzdem noch genug für sich zurückbehielte.“ Die Überfülle des Wohllauts spürt man hier in jeder Note, auch wenn die Geschichte kaum mehr tragbar ist, die ganze Oper seltsam aus der Zeit gefallen, aber trotzdem in ihrer hypertrophen Exaltiertheit hörenswert scheint. Bisweilen sündig man gern kalorienreich, auch wenn es nur akustisch ist.
Szenisch nämlich haben David Bösch und sein Ausstatter Christof Hetzer der „Heliane“ optische Diät verordnet. Das nämlich ist für sie die Rezeptur, das Geschehen ohne Verbiegungen oder Deutungsumwege so zu erzählen, wie es im klischeesatten Buche steht. Sie beamen das jugendstilschwangere Mittelalter der Vorlage nur in eine amerikanische Parallelwelt. Zwischen trockenem Staubboden, dürrem Gestrüpp und einer kaputten Werbetafel wähnt man sich nämlich irgendwo in New Mexico, im „Breaking Bad-“ oder „Mad Max“-Land, wo eine pittoresk zerlumpte, sektenähnliche, wohlmöglich mit chemischen Substanzen ruhiggestellte Gesellschaft sich von ihrem brutalen Anführer beherrschen lässt. Der unterdrückt natürlich auch seine Frau. Kann es aber nicht abhaben, dass da plötzlich ein ähnlich viriler Typ auftaucht und mit seinen Deutungsansprüchen alle verwirrt, ja verrückt macht.
Etwas holzschnittartig läuft dieses auch im Original simple Geschehen ab, wo niemand außer Heliane einen Namen oder gar Individualität hat. Doch zwischen düsterem Kunsthimmel und einem kargen Herrscherquartier im cadmiumfarbenen Container, umwabert von die Liebe preisenden elysischen Stimmen von oben, entsteht Spannung und Atmosphäre. Wenn sich der bullige Tómas Tómasson mit seinem schrundigen Bassbariton als Leithammel mit blanker Brust und blutigem Kreuzbrandzeichen aufbaut. Wenn der gutmütige, schön basstönende Wächter (Markus Suhikonen) oder die dubiose eifersüchtig-rachesinnende Botin (schartig: Natascha Petrinsky) agieren. Wenn die verlotterten Richter sekundierten, oder der wie der Seher aus der griechischen Tragödie auftretende blinde Scharfrichter (mit gleißendem Tenor: Denzil Delaere) seine Zweifel äußert, ob – uralter Machosagentopos nicht erst seit Genoveva – die Gattin ihren Mann betrogen hat.
Dabei ist wirklich (noch) nichts passiert, obwohl die somnambul herumgeisternde, doch mit einer sehr wachen, agil auch die Dauerhöhen wacker ersteigenden und in ähnlichen Wahnsinnspartien erprobten Sopranstimme aufwartende Ausrine Stundyte sich nicht nur aus ihren weißen Hemdchenhängern geschält (einen letzten aber anbehält), sondern sich wirklich in diesem komischen Fremden verliebt hat. Der freilich, obwohl Ian Storey mit seine fülligen Körperlichkeit und seinem starken, durchdringenden, freilich gar nicht jugendlichen Tenor als messianischer Lust- und Freudebringer anderes verheißt, will aber wie ein Mönch der Kunst und seiner Sendung nichts von ihr wissen. Er bringt sich lieber um, als sie zu „erkennen“ wie es so blumig im Libretto steht.
Die neurotisch augenflackende Heliane soll, angestachelt vom Herrscher, von der um ihren Lichtmenschen gebrachten Menge gesteinigt werden. Da erweckt sie als Gottesgericht den Toten und wird vom eifersüchtigen Mann erstochen – um in der gleißenden Helligkeit einer Scheinwerferbatterie ebenfalls aufzuerstehen und mit ihrem Gefährten in die Apotheose einer besseren Welt zu entfliehen. So wird clever aus dem religiösen Schwulst von gestern mythensattes Fantasy-Material von heute. Für den die scheinheilige Oper der richtige Platz ist. Ein wenig schillernd lavaglühende „Heliane“ wird also gern genossen. Denn süchtig wird man davon nicht. Dafür ist dieses Werk dann doch zu schräg. Aber solches erfahren zu haben, war rauschhaft schön und gut.
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