Zweieinhalb Stunden! Mit Pause! Für eine frühe, gern als himmlisch-ledrig verschriene Mozart-Seria wie den „Lucio Silla“, der ursprünglich vier Stunden dauerte. Das soll dem ziemlich gut interagierenden Basler Musiktheater-Team Erik Nielsen und Hans Neuenfels erst mal wer nachmachen. Denn wie wir hören, bleiben bis auf ein paar Arienwiederholungsteile bei dem nächsten „Silla“-Versuch, der Ende Oktober das renovierte Théâtre de la Monnaie in Brüssel als erste echte Premiere wiedereröffnet (wohl als sentimentale Erinnerung seines Schülers Peter De Caluwe an Gerard Mortier, der das dort einst Patrice Chéreau inszenieren ließ) von Tobias Kratzer (Regie) und Antonello Manacorda (Dirigat) die ungleichgewichtige Partitur ziemlich integral erhalten. Dabei wusste es schon Nikolaus Harnoncourt weiterhin besser als der 16-jährige Mozart, als er 1989 seine tolle „Lucio Silla“-Aufnahme sogar um ein sattes Arien-Drittel kürzte.
„Lucio Silla“, komponiert für die Mailänder Karnevalsaison 1773, ist ein eigentlich simples, aber doch zu Gunsten eines üppigen Arien-Parcours künstlich verwickeltes und verlängertes Römerdrama um den (ähnlich wie später Mozart und Metastasios Kaiser Titus) grausamen, aber politmüden Diktator Lucius Cornelius Sulla und seine Amouren. Ein Spektakel, das gern den Blick ableitet. Das ablenkt davon, dass Mozart mit seinem Seria-Personal und dessen passgenau wechselnden, in formell strenge Arienform gegossenen Affekten noch zu wenig anzufangen weiß. Die Figuren stehen herum, sie müssen durch ein strikt heutige Regie erledigt und entsorgt, entflammt oder engagiert werden. Doch steckt eben auch musikalisch viel Kraft und Größe in dieser zwei Jahre nach dem „Mitridate“ entstandenen Oper.
Mozart hatte zwei sehr gute Sänger zur Verfügung, die bedient er überreich, aber intelligent mit Koloraturen. Er schwelgt in begleiteten Rezitativen, einem Duett und einem Trio, geschickt verwobenen Ensembles. Hier, auf dem italienischen Silbertablett, präsentiert er sich als Komponist für Europa. Noch ist seine Individualität nicht wirklich erblüht, doch er hantiert professionell mit musikalischen Formeln wie die Großmeister seiner Zeit, gerät spielerisch experimentell an die Grenzen des Seria-Genres. Vor dem „Idomeneo“ ist deshalb ein klug bearbeiteter „Lucia Silla“, das einzige noch fehlende Werk, das endlich in den Kanon der relevanten Mozart-Opern aufgenommen gehört.
Das wird in Basel, mit seinen sinnvollen Kürzungen und Umstellungen, auch von Arien-Teilen) deutlich. „Autonomie und Gnade“ heißt eines der schönsten Mozart-Bücher von Ivan Nagel. Hans Neuenfels lässt eben diese beiden Begriffe gegenüber seinen strikt privat und jenseits ihrer historisch politischen Untaten geführten Figuren walten und bringt sie uns so nahe. Der alte Regietheaterwolf scheint ja länger schon zahm geworden. Seine alte Größe blitzt auf, aber sein Zugriff ist zarter, was dem noch unausgeformten Personal dieses reifen Jugendwerks gut tut. Herbert Murauer hat einen undefinierbar-eleganten Raum gebaut, der in Weiß erstrahlt, der Drinnen und Draußen, Gefängnis und Kapitol verkörpert, öffentlich und intim sein kann. Eine flachgerundete Wand mit vielen asymmetrischen Türen und Fensteröffnungen wir von einer kassettierten Pantheonkuppel überwölbt. Mal hängen Vorhänge, mal steht da ein symbolschwerer Kasten, hinter dem eine riesige, blutige Vagina lauert, in der der vor Frauen auch ein wenig zurückschreckende Sulla des rollangemessen verkrampften, tenortrockenen Jussi Myllys sich besudelt. Oder es hängt ein ausgestopfter Adler vom Bühnenhimmel, der animalische Wappentierrest römischer Imperialgröße. Andrea Schmidt-Futterers gedeckte Kostüme sind elegant und nur wenig angedeutet historisierend. Mit uniformen Geierköpfen erscheint das entindividualisierte Chorvolk.
Sulla liebt Giunia, die aber will von ihm nichts wissen, will ihren von Sulla getöteten Vater rechen und liebt im Übrigen den verbannten Cecilio. Giunia ist die mit herrischer Allüre ein wenig medeaähnlich im roten Zottelmantel agierende Hila Fahima, die ihre Töne wie Blitze schleudert, auch wenn sie bisweilen mehr flach als hart klirren. Kristina Stanek mit blondem Bubihaarschnitt und lila Samtanzug ist Senator und Weichling zugleich, von der Verlobten immer wieder auf Spur gebracht, mit beweglich anrührend juvenilem Sopran singend. Die findet sich in ihrer Liebesirrnis plötzlich in einem Paradies-Irrgarten mit wucherndem Grün wieder. Neuenfels liebt solche Metaphern, wie er auch wieder maßvoll mit Schrifteinblendungen witzelt, belehrt, kommentiert.
Fast buffamäßig gehen der Regisseur und sein bewährter Dramaturg Henry Arnold mit dem zweiten amourösen Paar um, der irgendwann Krücke und Spätes-Mädchen-Look abstreifenden Silla-Schwester Celia (ausdrucksprall: Sarah Brady) und dem zaudernden Patrizier Lucio Cinna (Hailey Clark). Auch der nur für das Stimmgleichgewichtig nötige zweite Mann unter so vielen Frauen (im Original: die Hälfte Kastraten) Silla-Freund Auffido, wird mit dem moppeligen, frisch tönenden Matthew Swensen wirkungsvoll in Szene gesetzt. Und natürlich gibt es auch zwei stumme Figuren: weißperückte Mozart-Doppelgänger auf schwarzen Stiefel-High-Heels, einer männlich, eine weiblich, die das Geschehen beobachten, spiegeln, konterkarieren bis am Ende Silla abdankt, den Lorbeerkranz ablegt, seinen leeren Thorn durch einen bürgerlichen Holzstuhl ersetzt und der Liebe ihren Lauf lässt. „Lucio Silla – eine Utopie“, so hat es der kluge Menschenversteher und Opernanalytiker Hans Neuenfels schon zu Beginn auf den Vorhang projizieren lassen.
Erik Nielsen, der eigentlich mehr für Moderne zuständig ist, hat am Pult des willig mitgehenden Sinfonieorchester Basel einen eminent lebendigen, temperamentvollen Mozartton gefunden, der mit seinen abrupten Tempowechseln die Szene beherrscht, ihr aber auch verliebt nachlauscht. Er lässt gern an der Kante musizieren, mit aufschleudernden Sforzati, aber auch schmeichelnden Legatoläufen. Da ist jede Note so gewollt; es gibt selbst in den Rezitativen nie Leerlauf. Trotzdem hängt niemand am Gängelband. Nielsen macht klar: Da ist ein junger Komponist, der einerseits in vielen Phrasen aus dem Formenzwang der Seria ausbrechen möchte, der nach neuem Sinn und echter Sinnlichkeit sucht.
Da ist andererseits ein frühreifer Mensch, dem es noch an Lebens- und Arbeitserfahrung fehlt, der den vom Libretto schematisch gezeichneten Figuren der römischen Antike noch zu wenig individuelle Präsenz einhaucht. Trotzdem gelingen Mozart hier, neun Jahre vor dem „Idomeneo“, einige seiner schönsten, raffiniertesten Opernarien. Die er freilich nicht selten mit allzu viel Koloraturfeuerwerk ausstattet und mit Verzierungen zuhängt. Dass weniger mehr ist, wird er erst noch lernen. Dafür wird man in Basel mit einer szenischen wie musikalischen Wiedergabe belohnt, die die Schönheit, die Emotion und in manchen Partiturseiten auch schon die Wahrheit dieser Musik zum Leuchten bringt.
Der Beitrag Eine klug gekürzte Mozart-Utopie: Hans Neuenfels inszeniert in Basel „Lucio Silla“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.