Am Schluss, nach etwas mehr als 90 Minuten, verbeugt sich ein großer, schwerfälliger, ein wenig aufgedunsener Mann: Robert Wilson, inzwischen 76 Jahre alt. Und da merkt man dann doch, dass die Zeit verronnen ist. Bei dem, was der rastlos, wenngleich nicht mehr im Turbotempo von früher weiterschaffende Starregisseur uns vorher geboten hat, hätte man sich freilich auch in den Achtzigerjahren wähnen können. Denn sein bildhaft naiver, technisch raffinierter Stil ist wie in Formalin eingelegt: immer gleich, manchmal ein wenig rauer, diesmal aber, bei „LUTHER dancing with the goods“ wieder höchst uninspiriert und austauschbar. Es ist die erste szenische Bespielung des neuen Pierre Boulez Saals in Berlin, diverse Behörden haben das zum Reformationsjubiläum finanziell gefördert. Der abenteuerlustige Rundfunkchor hat sich wieder mal aus seiner konzertanten Komfortzone bewegt. Und es ist doch nicht mehr als ein müde bebildertes Chorkonzert geworden, bei dem vier der acht aus Luthers Bibelübersetzung gespeisten Bach-Motetten licht und seraphisch durch den Raum schallen, meist von den unisex-kuttenähnlich verpackten, bleichgeschminkten Sängern mit Filzkappen im ovalen Parkettumgang intoniert.
Elliptisch ist auch die die schwarze Spielfläche in der Mitte hinter der die drei Continuospieler stehen. Drei Neonringe erhellen sie, zwischendurch auch mal geometrische Formen, zwei weitere Lichtringe hängen von der Decke. Hier sitzen ein rothaariger, altertümlich gekleideter Knabe, der eine Art Himmelsleiter hält, später senkt sich ein ganze Leitern-Mobile von oben herab. Eine strenge, ebenfalls rothaarige Frau (Griechenlands Kulturministerin Lydia Koniordou) in Renaissancerobe rezitiert zwischendurch Paulusbriefe und die Apokalypse auf Griechisch, Halbnackte in weißen Kuten stehen als pittoreske Figuranten herum. Der sehr alte Schauspieler Jürgen Holtz gibt den aus eigenen Texten rezitierenden Luther mit Barrett und Stock, aus welchem, nachdem er sich zum schönen Sterben auf eine weiße Chaiselongue niedergelegt hat, Flämmchen züngeln. Dann bügelt seine Witwe Katharina von Bora noch ein wenig, William Carlos Williams mit der Stimme von Fiona Shaw rezitierend.
Sehr ästhetisch ist das, sehr naiv, sehr fern und sehr beliebig. Teuerstes Bildertheater, über das längst die Zeit und die Mode hinweggesegelt ist. In Berlin, einstmals die Stadt, in der er am häufigsten inszenieren durfte, war Robert Wilson zuletzt nur noch Claus Peymann am Berliner Ensemble gewogen. War dieses öde Nachglimmem zu Bach jetzt wohlmöglich der Abgesang des einstmaligen Theaterzauberers, dessen Tricks so schal geworden sind? Zumal sich dessen Magie im doch sehr konkreten Konzertsaalambiente nicht so wirklich entfalten kannt, Wilsons perfektionistische Kunst braucht die Illusion und Präzision, sonst wirkt sie schnell wie flaches Kunstgewerbe. Am Anfang steht Knut Nystedts newage-artige Bach-Paraphrase „Komm’, süßer Tod“, in der Mitte Steve Reichs „Clapping Music“, wo genau dieses passiert – ohne weiteren Gegenwartsbezug.
Ein bisschen Musik, mindestens 200 Jahre jünger als Luthers Klangwelten, abstrakt bis gar nicht gedeutet (nix von der angekündigten „himmlischen Architektur“ der Bach-Werke ist zu sehen), dazwischen Spielszenen, die der areligiöse Robert Wilson „Kneeplays“ nennt, dieses Performance-Schema ist wohlbekannt. Wenn von der Apokalypse die Rede ist, schleicht ein rotes Hieronymus-Bosch-Monsterchen vorüber, der Papst wird mit Evangelistennamen tragenden Brocken gesteinigt, Tod und Teufel schreiten, das Plätteisen hat Nagelzacken wie auf einem Man-Ray-Foto. So zitiert es sich wohlfeil durch die Kunstgeschichte. Mit den Göttern tanzt hier rein gar nichts, wir heben auch kaum ab. Unendlich müde und stilisiert eingefroren wirkt alles. Aber Gijs Leenaars dirigiert den Rundfunkchor schön, sanft und zärtlich. Immerhin das.
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