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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Lyon: „Opernhaus des Jahres“ und Brittens War Requiem szenisch

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Glückwunsch! Die Opéra de Lyon ist Opernhaus des Jahres, gleich zweimal, gekürt beim britischen Opera Award und bei der Jahresumfrage der „Opernwelt“, wo sich immerhin sieben von 50 Kritikern auf das länger schon in ganz Europa Schlagzeilen machende Haus einigen konnten. Seit 2003 regiert hier der Flame Serge Dorny und er tut dies gut, umsichtig und innovativ. Klar, dass so einer auch mal weg möchte. Fast wäre es die Dresdner Semperoper geworden, wenn die dusselige Sächsische Kulturpolitik es besser eingefädelt hätte. Dorny wurde, weil er dem Platzhirschen Christian Thielemann zu mächtig war, Oper eben als zeitgenössisches Theater und nicht nur als Interpretentempel begreift, geschasst bevor er überhaupt anfangen konnte. Seinen Arbeitsgerichtsprozess hat er gewonnen – gleich zweimal. Doch selbst auf seine Anwaltskosten wartet er noch, deutsche Staatsmühlen knirschen langsam. Trotzdem bleibt auf seinem Namen im deutschsprachigen Raum ein Makel. Die Wiener Staatsoper hat er nicht bekommen, weil der wohl Ende der Woche abgewählte österreichische Kulturminister keinen aus dem Betrieb haben wollte, sondern einen angeblich smarten Quereinsteiger aus der Plattenindustrie. Ob Dorny also die erneuten Kritikerlorbeeren, die sein Haus sowieso jedes Jahr bekommt, nützen werden, letztlich für die Bayerische Staatsoper attraktiv genug zu sein, wo auch die Leitung ab 2021 neu zu besetzten ist? Der 55-Jährige wäre sicher eine erste Wahl. Das hat er eben wieder mit seinem Saisonstart bewiesen, der gleichzeitig der GMD-Auftakt für den hochgehandelten Italiener Daniele Rustioni ist. Und beide haben sich – natürlich – für eine unkonventionelle Stückwahl entschieden. Nach Elisabeth Stöppler 2011 in Gelsenkirchen sowie 2103 Calixto Bieto in Basel (und später Olso und Bilbao) wurde das War Requiem von Benjamin Britten szenisch interpretiert. Um eine Spielzeit zu beginnen, die sich thematisch „Kriegen und Königen“ widmet, um im traditionellen Frühlingsfestival zu gipfeln, das Giuseppe Verdi gilt und wo sich die Opéra de Lyon mit dem ungekürzten französischsprachigen „Don Carlos“ in direkte Konkurrenz zur Opéra national de Paris begibt. Welche nach dem Ende der Ära Lissner durchaus auch noch eine Dorny-Option wäre…

Fotos: Stofleth

Eigentlich sollte Brittens musikalisch packenden Neunzigminüter der Filmregisseur François Girard inszenieren, der hier Wagners „Parsifal“ in einen Blutsee verwandelt hatte, der selbst beim konservativen Koproduzenten, der New Yorker Metropolitan Opera, Furore machte. Doch ein neues Leinwandprojekt kam – wie in dieser Branche üblich – kurzfristig dazwischen. So wurde es jetzt der hier bereits bewährte Yoshi Oida. Als Peter-Brook-Schauspieler ist der 84-Jährige eine Legende, aber auch als Regisseur hat er sich von der Berliner Schaubühne über die Bregenzer Festspiele bis eben zur Opéra de Lyon mit seiner milden, atmosphäresatten, niemals provokativen Arbeitsweise bewährt. Und so ist er auch diesmal sich treu bleibend zu erleben. Er arbeitet in dem hybriden, aber völlig individuell klingenden Werk eines völkerübergreifenden Pazifismus das Allgemeingültige heraus, auch die Trennung der sakralen, meist dem Sopran und dem Chor sowie dem Kinderchor vorbehaltenen Teile gegenüber den profanen, auf Gedichte des im ersten Weltkrieg gefallenen Briten Wilfried Owen, die vom Tenor und Bariton vorgetragen werden. So mischt sich die Liturgie der lateinischen Totenmesse mit einem eigenwilligen, konkreten Zugang unmittelbarer, freilich poetisch überhöhter Kampferfahrung.

Und so zeigt Yoshi Oida das Werk. Bühne und Kostüme, sind nur Hilfsmittel zum Zweck des Angerührtseins. Das durchaus stärker ist als in einer normalen Konzertaufführung. Britten ist ein unbedingt theatralisches Komponist, dieses Bekenntniswerk durchzieht zudem ein lakonisches, nie hilfloses Pathos. Und so dirigiert es Daniele Rustioni auch, ruhig, nüchtern, souverän. Ein glänzendes erstes Mal  – offiziell. Es ist ja schon seine vierte Premiere hier, nach „Simon Boccanegra“, „La Juive“ und „Eine Nacht in Venedig“. Im Sommer hat er in Pesaro „La Pietra del Paragone“ dirigiert, und jetzt eben Britten; was die Spannweite des 34-Jährigen aufzeigt, der sich gerade nicht auf italienische Oper festlegen mag. Und der hier auch den ausgeglichen singenden Chor aus seiner Komfortzone holt, zum Verbündeten macht, wie auch die Maîtrise de l’Opera de Lyon, den engagierten Kinderchor.

Links ist das Kammerorchester lokalisiert. Rechts zeigt eine Schautafel das Datum 1914-1918 an. Ein Holzpodest zum Spielen an der Bühnenrampenmitte, hinten ein paar gazeglitzrige Vorhänge, auf denen einmal kolorierte Schlachtenvideos laufen, die stilisierte Ruinen und eine brandgeschwärzte Fläche offenbaren. Mehr hat Tom Schenk nicht an Kulissen entworfen. Und Thibault Vancraenenbrœck hat den hinten sitzenden, immer wieder spielerisch eingreifenden Chor mit einfachen Kleider der Entstehungszeit 1962 ausstaffiert. Die rechts platzierten Kinder sind heutig angezogen. Die drei Solisten scheinen dem Ersten Weltkrieg entsprungen. Benjamin Britten hatte für die Uraufführung hochsymbolisch die Russin Galina Wischnewskaja (die nicht ausreisen durfte), den Engländer Peter Pears und den Deutschen Dietrich Fischer-Dieskau vorgesehen. In Lyon sind es nun die etwas fade, vibratosatte Russin Ekaterina Scherbachenko, der reife, eindrückliche Amerikaner Paul Groves und der in Deutschland lebende Este Lauri Vasar mit seinem präganten, versatilen Bariton.

Schebachenko ist die Schmerzensmutter, die meist barmt, ein weißes Hemd blutig wäscht, Lilien auf einen Sarg legt, Kinderpuppen aus ihm herausholt, diese in die die Fahnen der Kriegsparteien wickelt, zum verlöschenden „Amen“-Schluss des „Libera me“ das Foto eines toten Soldaten emporhält. Die beiden Männer spielen feindliche Soldaten im Einsatz, an ihren Flaggen zu erkennen, dreckverschmierte Frontschweine im Schützengraben, die sogar über die nationalen Grenzen hinaus zusammen Spaß haben können, ein Zigarettchen rauchen, zum „So Abraham rose“ mit Stockpuppen das Opfer Isaaks mit hinter dem aufgebockten Sarg nachspielen. Angefangen hat Oida mit einer Art Trauerfeier im Regen vor eingewickelten Leichen, doch je mehr die Musik voranschreitet, verschwinden erst die Schirme und Mäntel, scheinen sich die Trauernden wie die von einer Nonne dirigieren Kinder in den angedeuteten Spielszenen der Vergangenheit als Fanal zu erinnern und dann wieder kollektiv mit Kerzen in den Händen einfach nur zu gedenken.

Und trotzdem: Man hätte sich das noch abstrakter, in der Bildwelt größer, weniger zugänglich, den Raum stärker aufsprengend denken können. Die packende, stimmungssatte, nie illustrative  Musik lässt so viele Möglichkeiten. Und trotzdem wurde deutlich: Ja, ähnlich wie Verdis Requiem oder die Matthäus-Passion kann auch dem War Requiem die Bühne eine Dimension hinzufügen. Wie jetzt an der Opéra de Lyon. Zum ersten Mal. Wiedermal dort.

Der Beitrag Lyon: „Opernhaus des Jahres“ und Brittens War Requiem szenisch erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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