Schon bei der Generalprobe in der Komischen Oper war klar: Diese Premiere von Debussys „Pélleas et Mélisande“, eine Woche nachdem die Deutsche Oper mit der grandiosen Uraufführung von Aribert Reimanns „L’Invisible“ ebenfalls drei kurze Maurice-Maeterlinck-Texte vorgestellt hatte, wird trotz Barrie Kosky am Regiepult vor allem musikalisch ein großer Wurf werden. Und das will gerade bei diesem Haus und ins einer 70. Spielzeit etwas heißen, an das man nicht unbedingt denkt, wenn es um klanglich fein ausziselierten Jugendstilranken-Gewebe geht. Doch das sonst gern so robust aufspielende Orchester unter dem neuen Kapellmeister Jordan de Souza klingt in dessen erster Neuproduktion ungewohnt duftig, durchsichtig, ja zart. Man erlebt die Partitur als fluide Stimmungsmalerei, szenische Illustrierung und unaufdringlich melodische Stütze. Doch de Souza kennt auch Direktheit, Stringenz, Folgerichtigkeit, heizt das sich hier ungewohnt dramatisch zuspitzende Geschehen mit federnden Tempi an.
Hervorragend auch die die Sängerbesetzung: Nadja Mchantafs Mélisande ist außergewöhnlich handfest. Sie singt silbrig „Ne me touche pas“ und greift doch dabei Golaud schon bei der ersten Begegnung unter den Armen durch, packt ihn an der Brust, sucht Halt und Nähe. Das tut sie immer wieder, lässt sich freilich schlagen, selbst als Schwangere treten und hinwerfen, gebiert drastisch mit blutigen Beinen und verschmiertem Schurz. Will sie das auch? Zumindest ist sie ein sinnlich bebendes Bündel.
Folgerichtig ist Günter Papendells Golaud ein fieser, mieser Macho, der tätlich wird, wenn er keine Worte mehr findet, doch wahrt der Sänger dabei seine geschmeidige Diktion. So wie auch Dominik Köninger als sein Halbbruder Pelléas. Beide Vokalisten kommen von der Baritonseite, sind sich auch stimmlich ähnlich, Köninger ist freilich der weichere, sensitivere. Einmal sitzen sie sich in schwarzer Unterwäsche gegenüber. Goloud erdrosselt Pelléas nach einem drastischen Liebesakt mit der Schwägerin mittels eines Gürtels. Präzise in ihren kurzen Auftritten: Nadine Weissmann als Geneviève, die bis zum Schluss Präsenz zeigt, und Jens Larsen als Großvater Arkel, der freilich sich auch mal gern in Mélisandes Haar reiben möchte und unangenehm übergriffig wird. Großartig in seiner Präsenz und seinem Singen: der Tölzer Knabe als ebenfalls von seinem Vater mental missbrauchter Yniold.
Barrie Kosky hat Claude Debussys Kammerspiel noch einmal reduziert und jeglichen Symbolismus abgespeckt. Nur einmal streckt Mélisande allen Verlangenden statt ihrer Haare mit Ästen bewehrte Arme als Fetischersatz entgegen. Dinah Ehm immerhin darf eine gewitzt-schräge Modenschau ablaufen lassen. Klaus Grünberg hat ihm dazu sprechendes Wechsellicht geliefert und eine schwarzgraue Bühne, bei der auf dem halbrunden, stark heruntergezogenen Rahmen ein projizierter Vorhang noch ein wenig Theaterherrlichkeit verbreitet, bis auch dieser verschwindet. So bleibt einzig die dreigassige Barockkulissenbühne, die die enge, gestauchten Spielfläche begrenzt. Doch alles ist trist und Schwarzgrau, nur durch Rasterpunkte gegliedert. Kein Verortung, eine abstrakte, minimalistische Familienaufstellung, die in desaströser Dysfunktionalität endet. Zudem werden die Figuren auf der rückwärtigen Sitzbank oder auf Laufbahnen oft gegenläufig verschoben: Somnambule, die gar nicht zu merken scheinen, was sie sich da antun. Nur die Musik, die ist wach und stark. Das greift zwar szenisch ein wenig kurz, beraubt das Werk um jede sensitive, mythische Dimension, zumal man schnell merkt, was gemeint ist und wie es weiterläuft, aber Darsteller und Klänge fesseln dann doch bis zum Finale.
Zu sehen auch auf der relaunchten Webseite OperaVision.eu
Der Beitrag Koskys „“Pelléas“ an der Komischen Oper: ein musikalisch starkes Kammerspiel erschien zuerst auf Brugs Klassiker.