Nein, das hätte man jetzt nicht gedacht. Philippe Jaroussky, Frankreichs Antwort auf die antiken Sirenen, hat noch kein Händel-Album aufgenommen. Andere besteigen zum 40. Geburtstag Achttausender, der Pariser Countertenor hat sich zum anstehenden Jubelfest im Februar schon jetzt eine wirklich feine, mit Raritäten aufwartende CD mit Arien des „caro sassone“ gegönnt. Und ich habe mich anlässlich von Veröffentlichung und jetzt anstehender Tournee samt vier Deutschland-Auftritten mit ihm darüber unterhalten.
Kein Händel bisher? Wie kann das sein?
Jaroussky: Ich habe mich nicht getraut! Erst wolle ich noch ein wenig warten, an Sicherheit gewinnen, lieber in etwas unbekannterem Repertoire mich austoben. Dann haben es dauernd andere Kollegen und Kolleginnen gemacht, da fand ich dann ebenfalls die Beschäftigung mit Caldara oder dem Repertoire von Carestini und Farinelli, mit Musik von Johann Christian Bach oder mit Porpora-Arien interessanter. Porpora ist herrlich zu singen, er beflügelt einen, aber musikalisch ist er höchsten mit einer Arie auf Händels Qualitätsniveau, mit „Alto Giove“ aus „Polifemo“. Und deshalb wollte ich eben jetzt doch noch unbedingt auch meinen Händel-Stempel hinterlassen, bevor es dafür zu spät ist. Ich wollte also den richtigen Moment abpassen: Nicht zu jung, um auch etwas zu sagen, um Erfahrung gesammelt zu haben, schließlich ist die Konkurrenz riesig. Und nicht zu alt, um nicht nur herbstlich Herbes abzuliefern. Jetzt also hat es gepasst. Und ich habe wieder gemerkt: Händel ist der Meister!
Und wie sind Sie dabei vorgegangen?
Jaroussky: Indem ich zum Beispiel auf der CD mit einer langsamen Arie anfange, „Se potessoro i sospir’ miei“ aus „Imeneo“. Ich möchte die Hörer sehr intensiv in diese Klangwelt hineinziehen, sie sensibilisieren für den wunderbaren Rhetoriker und Melodiker, der dieser Komponist gewesen ist. Darin kommt ihm von seinen Zeitgenossen eigentlich nur Vivaldi gleich. Der hat auch einige wirklich wunderfeine Arien geschrieben, tief, reich und schön. Aber Händel sind noch viel mehr gelungen. Natürlich habe ich immer noch Spaß an den luftigleichten Verzierungen, aber heute sind sie für mich grammatikalisches Beiwerk, mir geht es um anderes. Früher habe ich mich bisweilen im Feuereifer der Jugend überfordert, habe manchmal bei Liveauftritten wirklich gefürchtet, es nicht bis zum Ende zu schaffen.
Und jetzt?
Jaroussky: Jetzt achte ich mehr auf meine Komfortzone. Ich habe auch bewusst Arien aus nicht so bekannten, aber sehr schönen Opern ausgesucht, zehn verschiedene sind es geworden. „Radamisto“ und „Serse“ sind dabei die einzigen von den Hit-Opern. Es sind durchwegs die Arien der ersten Kastraten in der Besetzungsliste, oftmals wurden sie für Senesino geschrieben. So geht der jetzt auch noch in meine Porträtgalerie ein. Und ich habe manches auch transponiert, so wie man es zur Händelzeit auch immer gemacht hat, wenn die Opern mit neuen Sängern wiederaufgenommen wurde. Für manche gibt es noch die Fassungen. Jetzt sitzt die Musik perfekt und, die ersten Konzerte der Tour sind ja schon vorbei, es passt mir prima. Ich fühle mich wohl, werde nicht heißer, könnte hinterher auch gleich wieder anfangen, habe Energie und Frische. Ich kann die Auftritte also total genießen. Sicher hat mir auch geholfen, dass ich mit dem Ruggiero in „Alcina“ in Aix-en-Provence und den Sesto in „Giulio Cesare“ neben Cecilia Bartoli in Salzburg schließlich auch Händel-Bühnenerfahrung gesammelt habe. Ich bin auf der Szene etwas zurückhaltend, hinterfrage viel, brauche Sicherheit und Vertrauen. Das ist kein leichter Prozess für mich. Aber inzwischen sitzt Händel wie ein Handschuh.
Was war Ihnen bei dem Programm noch wichtig?
Jaroussky: Einmal, auch sehr bewusst mit den ungekürzten Rezitativen umzugehen. Denn auch da ist Händel sehr spannend, findet zu interessanten harmonischen Lösungen, das ist für ihn kein Nebengeschäft. Und ich finde, sehr oft werden dadurch auch die Arien spannender, wenn die Motivation für einen Ausbruch oder eine Klage klar ist. Darin ist er übrigens Porpora ähnlich, auch der war sehr gut mit Rezitative. Ich habe versucht, in dem Programm einen guten Flow hinzubekommen, so dass man es wirklich in einem Rutsch durchhören kann, deswegen fehlen dann ganz bewusst manchmal auch wieder die Rezitative, um reizvoll durch Kontraste zu sein, indem zwei Melodien aufeinanderstoßen. Darin hat mich auch meine Zusammenarbeit mit Natalie Stutzmann und ihrem Ensemble inspiriert.
Sie dirigieren diesmal auch wieder Ihr eigenes Ensemble Artaserse….
Jaroussky: Das ist die Frage, wer da wen dirigiert, Alesandro Tampieri ist ja ein starker, Impulse gebender Anführer! Ich finde, wir haben in den letzten Jahren gemeinsam immense Fortschritte gemacht. Und das wollte ich nun auch auf dieser langen Tournee mit 20 Konzerten honorieren und vorführen. Ich finde es auch schön, nachdem ich Anfang des Jahres nur mit Harfenbegleitung vom Rang aus die Elbphilharmonie eröffnen durfte, jetzt mit eine Arienabend aufs Podium zurückzukommen. Mal sehen, wie wir uns da auf der Bühne platzieren werden…
Dann ist aber mit Händel genug?
Im Gegenteil! Im März singe ich im Théâtre des Champs-Élysées noch einmal den Ruggiero in der Zürcher „Alcina“ von Christof Loy neben Cecilia Bartoli und mit Emmanuelle Haïm am Pult. Es soll ja aber auch unbedingt mit Bach und Deutschem weitergehen. Also, ich möchte schon gern noch „Erbarme Dich“ live in einer Matthäus Passion singen. Aber erst einmal freue ich mich total darauf, von Januar bis Juni nur in Paris sein zu können. Keine Koffer, dass ist paradiesisch. Im Mai singe ich dort auch in einer sehr speziellen Version von Glucks „Orfeo ed Euridice“, die 1774 für Neapel als Pasticcio von Johann Christian Bach eingerichtet wurde. Die Euridice-Musik ist nicht von Gluck und viel höher notiert, deshalb ist Patricia Petibon dabei. Das wird auch meine nächste CD werden, nachdem ich mich dem Orfeo ja schon quasi als Pasticcio via Gluck und Rossi mal angeschaut und vor vielen Jahren unter Jean-Claude Magloire gesungen habe. Diesmal dirigiert Diego Fasolis. Und dann bin ich noch in dem neuen Konzertsaal La Seine Musicale im Süden von Paris mit einer Académie musicale Jaroussky für jungen Sänger, aber auch für Kinder aus allen sozialen Schichten neuerlich engagiert. Darauf freue ich mich wieder besonders. Denn auch für mich wird es jetzt Zeit, mein Können und meine Tricks weiterzugeben.
Philippe Jaroussky: The Händel Album (Erato/Warner Classcis)
Tournee: 22. Oktober Berlin, 7. November Hamburg, 9. München, 11. Baden-Baden
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