Warum vor uns? So habe ich mich schon 1996 gefragt, als Peter Sellars mit Esa-Pekka Salonen im Pariser Théâtre du Châtelet Igor Strawinskys „The Rake’s Progess“ dafür benutzte, den Europäern ein flammendes Plädoyer gegen die Todesstrafe zu halten und das Werk statt im London des 18. Jahrhunderts (muss ja nicht sein) in der modernen kalifornischen Haftanstalt von St. Quentin spielen ließ. In den USA, wo er seinen Landleuten den Spiegel ob ihrer Strafmaßgebaren hätte vorhalten müssen, wäre ihm das freilich nie finanziert worden. Und 21 Jahre und fünf Staffeln „Orange is the new Black“ weiter sehe ich mich nun in Düsseldorf in Stefan Herheims „Wozzeck“-Inszenierung in der Deutschen Oper am Rhein in naturgemäß ähnlicher Ästhetik mit eben dieser Frage déjà-vue-haft neuerlich konfrontiert. Nur passt es diesmal besser, wenn der im weiteren Verlauf mal zurückhaltend, mal auftrumpfend herumtigernde, über weite Strecken auch geschickt sprechsingende Bo Skovus im karottenfarbenen Gefängnis-Overall auf einer Bahre festgeschnallt in einem gekachelten Raum neugierig auf die Apparatur starrt, mithilfe derer ihm gleich der tödliche Giftcocktail in dem anonymen Hinrichtungsraum eingeflößt werden wird. Die Zeugen sind hinter einer Glasscheibe platziert, Wachen, Pfarrer und Anstaltsdirektor haben Aufstellung genommen. Möge die Hinrichtung beginnen!
Die startet nach einigen Minuten stummen Vorspiels quasi als Audio-Äquivalent zum den Blutkreislauf des Delinquenten erreichenden toxischen Saft mit der Berg-Musik, und die bei sieben Uhr (morgens?) loslaufende Uhr bleibt dann prompt nach 30 Sekunden auch stehen. Wiederum 95 Minuten später, wenn die Partitur mit ihren dreimal 15 Bildern höchster Präzisionsmusik vorbeigerauscht ist, vom Düsseldorfer GMD Axel Kober ein wenig g’schlampert, ja schmierig durchgewunken, nicht immer sauber, bisweilen süßlich aufgeschmalzt, ist der multifunktionale Bühnenchronometer, der auch als rote Sonne und silbernen Mond, als Erde und Spiegel herhält, gerade mal um fünf Minuten vorangekommen.
Denn er lief erst weiter, als Wozzeck im Verlauf des 14. Bildes wirklich tot ist: der des Stückes, der einmal mehr mit seinem durch viele (Mittäter-)Hände gehenden, immer wieder bei ihm landenden Barbiermesser wild durch die Luft fächert und vor dem eine Volksmasse liegenblieb, während hinten kurz eine Märchenteichlandschaft im Nachtlicht über die Fliesenwände schimmert; aber auch der des Vorspiels, das den optischen Rahmen bildet, und der nach dem ersten Einträufeln der Todesmixtur in seinen Venen, die Opernhandlung quasi als in ihren Bildern frei sich überlagernde, die reale Zeit anhaltende Rückblende erlebt.
So also unterwirft sich Stefan Herheim auch dieses perfekt gebaute, fast atemlos abschnurrende Stück. Wo sich noch vor einer Woche in Wien Robert Carsen, normalerweise auch ein um smarte Konzepte nicht verlegener Regisseur, um größtmögliche Klarheit, Einfachheit und Folgerichtigkeit, ja Simplizität bemüht hat, da will es Herheim wieder kompliziert. Mit einem nicht so wirklich neuen Rezept. Er kann ja nicht anders, und deshalb verblüfft diesmal die Stückwahl ein wenig. Er wollte wohl nach der im Zirkusmilieu als Kaleidoskop der Identitäten angesiedelten, in Kopenhagen, Oslo und Dresden gezeigten „Lulu“ auch noch die zweite Alban-Berg-Oper auf seine Art knacken. Es ist ihm gelungen, wenn auch nicht so brillant und überraschend wie sonst, weil er sich lange zurückhält, für seine Verhältnisse relativ plan nur zwei Ebenen übereinanderschichtet.
Aber weil die eigentliche Erzählschicht quasi von einem Sterbenden im Unterbewussten erinnert wird, kann sich Herheim hier ein paar Freiheiten im an sich so stringent deutungsdichten Berg-Bau nehmen. So ist die ebenfalls anstaltsrot gekleidete Marie (die starke, präsente, eher mütterliche Camilla Nylund) viel öfters auf der Szene als eigentlich vorgesehen, ihre ablenkbare Liebe zu Wozzeck wird überdeutlich, ihre Abhängigkeit von ihm wie von der Religion auch. Manche Szenen laufen inhaltlich simultan ab, andere werden neu gegliedert, weil Wozzeck immer wieder die grünliche (Brecht)-Gardine über Christof Hetzers nüchtern fünfeckigem Hinrichtungsraum zuzieht, der freilich auch seine Wände surreal ausklappen oder nach oben fahren lassen kann. Wie seine Visionen beim Stöckeschneiden in der zweiten Szene, so erlebt Wozzeck viele Bilder als scheinbar psychotische, aus den Fugen geratene Panoramen einer gequälten, wahnsinnigen Seele.
Der Todeskandidat, dessen Schuld freilich nicht wirklich thematisiert wird (ist es die Gesellschaft, der eigene Anspruch, die zu lockere Geliebte?), der zumindest keinen fass- oder sehbaren Mord begeht, nur Marie auf seiner Bahre platziert, er kann so leichter seinen von vielen Regisseuren auf einer reichen Opernbühne als anmaßend empfundenen Ausspruch von den „Wir armen Leut“ geltend machen – bei, hier oftmals, angeschaltetem Zuschauerraumlicht – weil er ja bemitleidenswert und unmenschlich stirbt, von einem geschlossenen Justizsystem ebenfalls umgebracht wird. Und so kann auch der operettige Tambourmajor (kernig: Corby Welch) mit einem ortsüblichen, stummen Funkenmariechen kurzgeschlossen werden, dessen Militärflittergewandung als doppelte Parodie von dem Mitwirkenden weiterverwendet wird.
Selbst die (oftmalige) Peinlichkeit eines Kindes auf der Bühne erspart sich Stefan Herheim: Nur ein Schaukelpferdchen links in der Ecke erinnert an den Wozzeck-Jungen; während des d-moll-Zwischenspiels vor der letzten Szene treten schon einmal alle Mitwirkenden aus ihrer „Wozzeck“-Show heraus zum Verbeugen an die Rampe, die im Finale singenden Kinder kommen ebenfalls in Anstaltskleidung ganz nach vorn und tönen quasi als abstrakter Epilog. Hauptmann (fies jovial: Matthias Klink) und Doktor (schneidend scharf: Sami Luttinen) sind als Gefängnischef und Pfarrer ausgewiesen, sitzen schon bei ihrem letzten Erscheinen am Teich als Engel über der die Kollektivszenen im Wirtshaus und in der Kaserne als anonyme Massen durchirrenden Menschheit.
So schwankt Herheim in seinem diesmal weitgehend neongleißenden Musiktheater-Reigen als Rückblende über Verbrechen und Strafe, Schuld und Sühne ein wenig unentschlossen zwischen Theatertricks und betroffenheitstriefender Publikumsvereinnahmung für das ewig aktuelle Schicksal des von den Umständen untergepflügten Johann Christian Woyzeck, der am 3. Juni 1821 in Leipzig seine Geliebte erstach. Möge er wenigstens an diesem, durchaus spannenden, hellwachen Abend in Opernfrieden ruhen.
Der Beitrag Herheims Düsseldorfer „Wozzeck“-Rückblende: Bergs Musik als lähmender Todescocktail erschien zuerst auf Brugs Klassiker.