Der Himmel über Paris ist grau, und termingerecht beginnt es beim Aussteigen an der Gare de l’Est zu regnen. Nix goldener Herbst im Jardin du Luxembourg, aber ich bin ja auch zum Arbeiten hier, Tourneebegleitung bei jemandem, der gerade einen wirklich goldenen Dirigentenherbst ins schier Unendliche verlängert, diesen genießt, seinen Musikern und seinem Publikum zur Freude und zum Geschenk: der bescheidene, konzentrierte Herbert Blomstedt. Bei dem unglaublich aktiven, agilen, präsenten Neunzigjährigen ist inzwischen wirklich jedes Konzert eine Sternstunde. Weil alle alles geben, weil Lebenserfahrung sich komplett in den Noten konzentriert, aus diesen pulst, und der Musik Bedeutung, Berechtigung, Schönheit und Größe gibt. Herbert Blomstedt, der Adventist, feiert jedes Konzert als Gottesdienst und man muss selbst nichts glauben, um das zu spüren. Höchstens an die Kraft der Musik. Eben hat er seinen runden Geburtstag mit einer Party auf einem schwedischen Schloss begangen, ist schon wieder bei den Salzburger Festspielen bei den Wiener Philharmonikern am Pult gestanden und hat jetzt die 275. Gewandhausorchester-Spielzeit als Ehrendirigent mit vier Programmen eröffnet, mit denen jetzt das Orchester durch Europa und Asien tourt, vier Wochen lang. Gewandhauschef Andreas Schulz hätte locker noch weitere zwei, drei Wochen verkaufen können, wie er lachend erzählt.
Dazwischen hat sich Herbert Blomstedt aber eine Woche lang den irdischen Dingen gewidmet, der strengen schwedischen Steuererklärung beispielsweise. Jetzt aber hat die Jubiläumstour mit dem rüstigen Dirigentendoyen tags zuvor im Barbican Centre in London begonnen, mit Beethovens Trippelkonzert und Bruckners 7. Sinfonie, es stehen nämlich nur Werke auf dem Programm, die das älteste bürgerliche Konzertorchester der Werke uraufgeführt hat. Die Musiker sind eben aus dem Eurostar ausgestiegen, die Hotelzimmer an der Place de la République wurden bezogen, man schwärmt konzentriert in Freizeitkleidung aus. Tourneeroutine, in Paris ist man für zwei Konzerte und drei Tage, da kann man es geruhsam angehen lassen. Nur Blomstedt und seine älteste Tochter, die ihn auf einem Teil der Reise begleitet (in Japan lässt sie sich von einer anderen Verwandten ablösen), haben, weil sie schon früher angekommen sind, brav eineinhalb Stunden in der Lobby gewartet, bis die Zimmer fertig waren. Jeder andere Dirigent wäre bis dahin wutschnaubend in eine andere Herberge umgezogen oder hätte das Personal zerlegt. Und dass man im selben Quartier wie die Musici logiert, ist unter seinesgleichen auch eher eine Seltenheit…
Nach ein wenig Freizeit, auf den Hotelfluren sind freilich die obligatorischen Cellotonleitern und Klarinettenläufe der ewig Übenden zu hören, geht es in Bussen durch das rush-hour-dichte Paris zur neuen Philharmonie. Das ist dann hinter regennassen Scheiben doch angenehmer als in der engen Metro. Zum dritten Mal weilt das Orchester schon hier, mit der Elbphilharmonie lässt man sich hingegen auffällig Zeit bis 2018. Kisten werden geöffnet, die Bläser verziehen sich in Ecken und Katakomben zum Warmspielen, tausendfach erprobte Routine. Die verkraftet es auch, dass ein Kontrabassspieler zu spät kommt, er hat vergessen seine Uhr von der englischen Zeit vorzustellen. Das kluge Orchester gewährt auf Touren inzwischen öfters 45 statt nur 30 Minuten Anspielprobe. Die braucht es diesmal auch. Das Pariser Programm eröffnet mit Brahms’ Deutschem Requiem. Das ist einer der Repertoirepfeiler der Tournee.
Man bekam schon vor drei Jahren die Einladung zum traditionellen Allerheiligenkonzert im Wiener Musikverein, wo an diesem Tag stets dieses Werk gespielt wird, obligatorisch mit dem Singverein, der ja 1867 die ersten drei Sätze uraufgeführt hat. Und so wurde der Chor auch nach Leipzig für die Proben und ersten Konzerte expediert, jetzt ist er, 97 Sänger stark, für einen Abend nach Paris gekommen. Zweimal wird man das Werk dann in Wien interpretieren, anschließend auch noch in Japan, wo der Chor sich zudem ein a-capella-Konzert arrangiert hat. Aufwändigste Tourlogistik, aber trotzdem auch Reisealltag. Herbert Blomstedt kommt im blauen Pulli, er redet nicht viel, probt lieber. Effektiv, um die heiklen Stellen wissend. Das so schwere Sopransolo lässt er komplett durchsingen, denn Hannah Morrison ist neu, in Leipzig sang eine andere Vokalistin; beide müssen einmal mehr Genia Kühmeier ersetzen, die auch bereits für eine allererste, ausgefallene Sopranistin nachgerückt war. Es gibt Applaus nach ihrem schlichten, fein gesetzten Satz. Auf den Rängen verbreiten bereits die Einlasser dezente Hektik, das Publikum wartet vor den Türen.
In der Philharmonie, die ganz im Gegensatz zum anderen neuen, noch um Publikum kämpfenden Pariser Saal La Seine Musicale, nach wie vor gestürmt wird, wird es bald voll sein und erwartungsfroh brummen. Im Balkon nehmen Intendant Laurent Bayle und Andreas Schulz Platz, aus Wien ist sogar Musikvereinschef Thomas Angyan mit Frau gekommen. Das Requiem nimmt seinen Lauf, schön und schlicht, in breiten, doch flüssigen Tempi. Es klingt entspannt, weich und doch durchsichtig. Die Akustik war hier vorm ersten Tag an eine sehr gute. Bei Herbert Blomstedt ist keine Geste zu viel, jede Emotion richtig. Der Chor hat einen warmen, nicht überperfekten Klang, das Amateurhafte, eben nicht bisweilen unpersönlich Profi-Überperfekte der Sänger meint man zu hören, das gibt ihm aber auch die ganz besondere, durchaus wienerische Note.
„Siehe, ich sage euch ein Geheimnis“, singt ganz einfach (was ziemlich schwer ist) Michael Nagy mit seinem lyrischen Bariton. Doch dieses Geheimnis, es sagt sich nicht wirklich, das ist die Blomstedt-Faszination, wie er mit so wenig so Vieles so richtig erreicht. Das Publikum hört aufmerksam zu, gehustet wird nur zwischen den Sätzen, allerdings brandet der Beifall zu früh los. Großstädter, die können halt nicht warten, mutmaßen hinterher ein paar Musiker, die sich dann wieder erinnern, dass kurz nach ihrem letzten Gastspiel ganz in der Nähe ihres Hotels das Attentat auf das Bataclan stattfand. Im Künstlerzimmer freut sich währenddessen Herbert Blomstedt, dass die Balance so schön geklappt hat. Bei Hannah Morrison kommt die halbe Schottin durch: Sie geht hinterher Fisch & Chips essen. Andreas Schulz und ich entscheiden uns für Elsässisch. Beim Riesling wird mir dann das komplexe Puzzle entfaltet, das eine solche Tournee schon drei Jahre vorher ausmacht.
Denn eigentlich war diese Jubiläumssaison für Riccardo Chailly geplant, der bis 2020 an der Pleiße bleiben wollte. Dann wurde es, nach dessen überstürztem Abgang (aber im Guten) zur Scala und nach Luzern, eine weitere generöse und gern gedrehte Ehrenrunde mit Herbert Blomstedt: quasi als Erinnerung an die eigene Geschichte und die schwierigen Jahre nach der Kurt-Masur-Wende 1998-2005. Bevor am 22. Februar Andris Nelsons als 21. Genwandhauskapellmeister startet, fast ohne Pause drei Monate anwesend und auf Tournee sein wird. Dann bewusst mit Uraufführungen und einem jugendlicheren Blick nach vorne.
Doch das Alte wird hier nicht verschmäht, vor allem wenn es so frisch, neugierig und präsent klingt wie Herbert Blomstedt. Das ist ein Musizieren ohne Ecken und Kanten und trotzdem höchst plastisch und strukturiert. Leicht und doch mit Tiefgang, abwägend und sich doch sicher im sparsamen Einsatz seiner Mittel. Befriedigt werden als letzte Tagesimpressionen noch die ersten, sich überschlagenden 5-Sterne-Kritiken aus London am Infobord in der Hotellobby mitgenommen. „Solch ein Konzert wird nicht leicht zu übertreffen sein, nicht einmal vom Gewandhausorchester selbst“, heißt es da. So schläft man doch gut! Morgen mehr.
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