Das große Tournee-Glück, es hört nicht auf. Denn Herbert Blomstedt dirigiert das Gewandhausorchester in Paris heiter weiter. Und wieder sind im Programmkörbchen Werke, die man zu Hause in Leipzig uraufgeführt hat. Zunächst das – es wissen die wenigsten, auch nicht die Pariser Programmheftautorin, die fälschlicherweise Wien angibt – Tripelkonzert Ludwig van Beethovens. Nicht einmal das dirigiert Blomstedt linker Hand als lässiges Solistenfutter, sondern mit vollen Engagement. In London hat man das Trio bereits aufgefrischt: Kirill Gerstein am Klavier hat den leichtesten Part (auch wenn es nicht stimmt, dass der für einen Erzherzog konzipiert worden ist), liest aus iPad-Noten mit Fußfernbedienung zum Umblättern, hält sich angenehm und dezent geschmackvoll zurück, obwohl das Donnern ihm ein Leichtes wäre. An der Geige Leonidas Kavakos, ein All-Time-Gewandhaus-Favorit, den auch Riccardo Chailly präferierte, mit seinem stählernen, doch ungemein subtilen, lyrischen Ton. Und als musikantischer Mittelpunkt am Cello Gautier Capuçon, ein sehr französischer Filou im Leben, aber ein hochsensibler Musiker, intensiv, kantilenenverliebt und ehrlich. Eine wunderfeine Kombo, die die Noten sprühen lässt, vor allem die beiden in der Anspielprobe feixenden, sich in den Unisono-Stellen anstachelnden Saitenjungs haben schnell ihr Etikett als Kicherkerle weg. Ein herrlicher Konzertauftakt in der wiederum ausverkauften Philharmonie de Paris, selbst zweitklassiger Beethoven wird so geadelt. Hinreißend die zarte Zugabe mit dem fließenden Adagio aus dem Gassenhauer-Trio Opus 11, welches in dem Auditorium ebenfalls fein klingt, leise aber konturenstark.
Und dann der Moment für die Interpretationsewigkeit: Herbert Blomstedt dirigiert Schuberts große C-Dur-Sinfonie. Auch groß mit Sechzehner-Besetzung. In der Anspielprobe, wo sehr nüchtern nur Tempi noch einmal justiert werden, tönt das etwas dick, zudem überrascht das Hörnerecho im leeren Saal. Im Konzert, ein paar Geigen und Kontrabässe kommen zu spät, weil im Musikeraufenthaltsraum mit den tiefen roten Postern kein Einruflautsprecher zu hören war, ist das die große Ruhe, Schönheit und Gelassenheit. Grandios wie Blomstedt die Geschwindigkeit anzieht und drosselt, wie er dynamische Treppen baut, wie er strukturiert, schraffiert, nuanciert. Da ist freilich kein Zwang. Da liegt eine graue, geschlossenen Partitur auf dem Pult, ein leicht gebückter, breitbeinig dastehender Herr schaufelt stablos, rudert, zückt den zuckenden Zeigefinger, kantet eckig aus mit großen Handflächen. Eigentlich ein unelegantes Nichts an Gestik, aber was es bewirkt, ist pure Magie. 16 Streicher, die wie einer klingen, eine Oboe (Domenico Orlando), die auf immer so weiterhüpfen und gluckern könnte, butterzarte Hörner, silbrige Flöten, vor allem aber: scheinbar kein Zwang und keine Führung, nur Angebote, die alle aufnehmen, ohne hinzuschauen. Wie macht Herbert Blomstedt das nur? Optisch ist es unerklärbar. Da ist nichts aufgesetzt, alles organisch entwickelt, ein wirkliches Geben und Nehmen. Kommen die Akzente von ihm oder ahnt er voraus? Man weiß es nicht. Vor allem das Scherzo mit seiner noch einmal differenzierteren Wiederholung möchte man dehnen bis ins Unendliche. Orchester und Führer (ja, nennen wir ihn so) sind eins. Und die Pariser juchzen und schreien am Schluss, fast kommt Stadionstimmung auf, nach fast zweieinhalb Stunden hochkonzentrierten Zuhörens.
Tagsüber war es für alle geruhsam. Jeder legte sich sein Paris zurecht, man schlief, saß am Computer, hatte bereits Frühstück-Meetings (Andreas Schulz und der Orchestervorstand) oder flanierte. Zwischen Rubens und Picasso, Modeausstellungen, Galéries Lafayettes, Park-Promenieren, Architektur-Abklappern, Boulevard-Bummeln und kalorierenlastiger Bistro-Breitseite hatte das zum Glück sich bessernde Wetter vieles im Angebot. Und wem das noch nicht frankophil genug war: die bronzene Marianne vor dem Hotel gab es nachts auch in Trikolorefarben. Morgen mehr.
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