Neulich auf dem Flughafen Luxemburg: Das Gewandhausorchester hat extra eine Maschine gechartert, um nach Baden-Baden zu kommen. Denn der Kürzestflug nach Karlsruhe ist dann doch praktischer als die Zugfahrt mit nur acht Minuten Umsteigezeit (bei 130 Mitfahrern fast ein Ding der Unmöglichkeit, selbst wenn alles pünktlich ist) und dem nächsten Anschluss nach zwei Stunden. Denn abends ist schon wieder Konzert. Der gemietete Flieger kommt aus Hamburg, und wer sitzt drin: das Cleveland Orchestra, das mit Franz Welser-Möst eben sein Elphie-Debüt gegeben hat und abends in der Philharmonie Luxemburg spielt. Eine Klangkörperbegegnung der besonderen Art. Einige Musiker kennen sich, aber es bleibt nur Zeit für ein paar Worte, die einen müssen zur Gepäckausgabe, die anderen boarden.
Folgt auf einer Tour Konzert unmittelbar auf Konzert, schalten die meisten Musiker auf Sparmodus. So lange wie möglich schlafen, packen (in Wien ist man fünf Tage, da kann man sich den Luxus leisten, einen für vier Reisewochen gefüllten Koffer mal komplett zu entleeren) frühstücken, Bus, Zug oder Flugzeug, Bus, Hotel, essen, schlafen, Üben, Anspielprobe und Konzert. Eher dösige Routine, alles fokussiert sich auf die zwei Konzertstunden. Doch so wie in den vier Stunden von der Ankunft in den drei Baden-Badener Hotels bis zur Probe so mancher doch noch ein kurzes Kurpark-Hopping einlegt, so findet sich ein so williges wie fröhliches Streichertrio zu einer Stunde Education im Ballettsaal des Festspielhauses ein. Dort gibt es zwar eine ebenfalls umfängliches Kinderbegleitprogramm, aber das Gewandhausorchester geht selbst auch mit der vom Logistik-Sponsor DHL finanzierten Künstlerstunde GoTeach auf Kundenfang von Morgen.
14 Schülerinnen und Schüler der Werkrealschule Lichtental erhalten Einblick in den Alltag der Berufsmusiker. Nach einem Blick hinter die Festspielhauskulissen hören sie einzelne Sätze von Mozart und Beethoven, dürfen darüber reden, die Musiker erzählen aus ihrem Alltag. Die Kids sind offen, spielen sogar alle ein Instrument, das ist in der Schule Pflicht, aber Musikunterricht gibt es keinen. Man hat also ein paar praktische Kenntnisse, kann die aber nicht einordnen und systematisieren. Willkommen in der Pisa-Bildungswüste Deutschland. Deshalb sind solche Initiativen und seien sie noch so klein, umso wichtiger. Sie sprießen wie Samenkörner.
Das Gewandhausorchester selbst lädt einmal im Jahr auf gut sächsisch zur „Audio Invasion“ als Stehkonzert um 22 Uhr und Party im Foyer, diesmal mit Martin Grubinger. Und die vive australische Bratschistin Tahlia Petrosian (die auch fertig ausgebildete Juristin ist) veranstaltet zweimal im Jahr zusammen mit der Moritzbastei und willigen, aktuellen Orchester-Gastkünstlern (die bis hin zu Anne-Sophie Mutter und Joshua Bell reichen) den „Klassik Underground„, wo man auch mal mit Literatur, Video- und bildender Kunst in Berührung kommt. Das Erfolgsformat wird auf der aktuellen Tournee nun auch erstmals in einem Club in Tokio ausprobiert. Lohn für die Künstler: ein schniekes 3-Minuten-Video für ihre Social Media Kompetenz. Denn selbst als Violinenvirtuosa in einem gewissen Alter muss man zeitgeistig aufgestellt bleiben…
Solches freilich ficht Herbert Blomstedt nicht weiter an, der hat heute seinen Abend in E, wie er später lächelnd kommentiert: erst Mendelssohns Violinkonzert e-moll, dann Bruckners 7. Sinfonie E-Dur, beide 1845 bzw. 1884 selbstredend in Leipzig vom Gewandhausorchester uraufgeführt. Leonidas Kavakos spielt das so versonnen wie zupackend. Und so sehnsuchtsschön wie schwungvoll – von einem Maestro, der da immer „gondola“ wollte, hat er abends zuvor geulkt. „Seit 23 Jahren konzertiere ich nun mit diesem Orchester, unter Blomstedt habe ich das Werk zum allerersten Mal überhaupt gespielt, das verbindet. Aber auch mit Riccardo Chailly war es eine wunderbare Zeit, und noch dieses Jahr spiele ich erstmals mit Andris Nelsons in Boston, wo ich schon öfters war und ich bin auch schon wieder für Leipzig eingeladen.“ Was macht diese Tour so besonders, frage ich ihn am nächsten Tag im Flugzeug nach Wien. „Herbert Blomstedt in Kombination mit diesem Orchester, aber auch die Intensität, mit Solowerken von Brahms und Mendelssohn sowie dem selten gespielten Tripelkonzert über einen Monat zu tun zu haben, diese so oft wiederholen zu können. Und das auch noch mit so netten Mitverschworenen wie Gautier Capuçon, den ich aus Verbier kenne und Kirill Gerstein, mit dem ich noch nie gespielt hatte.“
Die riesiger Baden-Badener Festspielscheune hinter dem Alten Bahnhof (wo jetzt, lecker, lecker, Harald Wohlfahrt die Restauration berät) ist nur schütter gefüllt, man hat aber die Besucher geschickt verteilt. Die einzige Tour-Delle und das noch dazu am einzige deutschen Gastierort, das nagt schon ein wenig. Nun hat Blomstedt zwar nicht den hier ortsüblichen Glamour, aber er war auch schon im Frühling mit den Wienern da und das Gewandhausorchester kommt nächstes Frühjahr auch schon wieder mit Nelsons (so wie auch zum zweiten Mal in der Saison nach Wien, Paris und Luxemburg). Ein zu dichtes Programm für die Schwarzwald-Ländlichkeit? Eine sehr laute Rheinländerin mit dickem Akzent erzählt eine Reihe weiter hinten jedem von ihrem 80. Geburtstag und dass früher die Dirigenten doch doller waren, na vor allem der Dingens, ach, jetzt weiß sie den Namen nicht. Dafür hustet sie uns anschließend was, auch sehr laut, vier Sätze lang; sie ist die einzige nicht!
Doch das kann diesen Bruckner, der so groß ist und so herrlich klingt und so einfach daherkommt, nicht trüben. Herbert Blomstedt nimmt dieser Siebten jede einschüchternde Statur, der erste Satz klingt wirklich heiter und ländlervergnügt, trotz aller Chromatik und Kontrapunktik. Das Orchester ist ein Wunder an lichter Durchhörbarkeit, an schlichtem, doch höchst raffiniertem Wohlklang. Ohne jedes Auftrumpfen salben sich dann im cis-moll-Adagio die Wagnertuben in den Saal, und ölig wird es auch nie. Ein erhabener, organischer Anstieg, von stiller Trauer. Und auch weiter bis zum Finale weiß Blomstedt genau, wo er hinwill, er steuert mit wacher Dramatik, aber das Orchester folgt ohne Zwang. Das gewaltige Werk entfaltet sich so scheinbar leicht wie ein Gänseblümchen und strahlt doch golden als höchst komplexes Origami-Artefakt. Solches geht nur, wenn jegliche Eitelkeit in der Garderobe geblieben ist, Dirigent und Orchester blind einander vertrauen und doch nicht mit geschlossen Augen, sondern höchst wach diesen sinfonischen Weg als Parcours klanglicher Überraschungen fahren.
Der Beifall macht an Dezibel wett, was ihm im Saal an möglichen Händen fehlt. Als ich mit Blomstedts Tochter backstage gehe, kommen wir an einem Kühlraum vorbei. Sie lacht trocken: „Wissen Sie, ich bin Ärztin, das ist wohl für Getränke, aber ich dachte für einen Moment an was anderes!“ Willkommen bei den nüchternen Blomstedts. Da, wo trotzdem das allerschönste Musizieren zu Hause ist. Morgen mehr!
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