Ihm kann keiner. Daniel Barenboim ist und bleibt der große Kulturzampano in Berlin. Weil der weltberühmte Dirigent nach Aufgabe seines Mailänder Scala-Jobs inzwischen international ein wenig kürzer tritt, zumindest seit Jahrzehnten nur einen einzigen Posten, den als Musikdirektor der Berliner Staatsoper, inne hat, treffen seine Allüren nun eben auf ein einziges Ziel. Wer erinnert sich nicht noch mit Grauen an das gruselschlechte Uraufführungsfiasko „Metanoia“ von dem von ihm kurzzeitig als Nachfolger für seinen leider zu tattrig geworden Komponistenfreund Pierre Boulez erkorenen, längst schon wieder vergessenen Jens Joneleit? Im Untergrund des Berliner Kulturgetuschels gehen zum Beispiel die Gerüchte, der Tatkstockgewaltige möchte – die Premierenserie der neuen „Nozze di Figaro“ ist noch nicht zu Ende – bereits 2020 den Mozart-Klassiker wieder erneut herausbringen, dann hoffentlich im neuen alten Haus Unter den Linden. So dreht sich das Barenboim-Karussell weiterhin hauptsächlich um sich selbst.
Und den auf seinen besonderen Wunsch von ihm geschmiedeten „Ring des Nibelungen“ – eine Koproduktion mit der Scala – findet Daniel der Große ebenfalls so grauenvoll, dass er baldigst eine neue Tetralogie haben möchte. Es wäre dann seine dritte an der Spree. Pikant ist freilich, dass nun eigentlich erst mal die Deutsche Oper dran ist, die ihren legendären Götz-Friedrich-Zeittunnel-„Ring“ von 1985 endlich zurück in die Zukunft schicken will. Gegen den anfänglich erbitterten Wiederstand ihres Förderkreises, wo man jetzt schon dem letzten Durchlauf 2016/17 entgegenfiebert, konnte man immerhin (mit der Aussicht auf Stefan Herheim als Regisseur) eine Neuproduktion ab 2020 durchsetzen. Was Daniel Barenboim freilich nicht zu stören scheint. „Wer verbietet ihm schon was“, stöhnte gerade ein leidgeprüfter Insider. Freilich gibt er bisweilen auch ab: Weil das Stammhaus weiterhin Baustelle bleibt, wollte Aribert Reimann nicht länger warten und durfte – mit ausdrücklicher Zustimmung des Über-Maestro – seine ihm schon zugesagte neue Maeterlinck-Oper „Die Blinden“ 2017 an der Deutschen Oper bei Donald Runnicles platzieren.
Und jetzt, wo er selbst in die Jahre kommt – vor zwei Tagen wurde er 72 –, scheint Barenboim besonders auf das fröhliche Alter zu setzen. Leider ist sein anderer Komponisten-Held, Elliott Carter, bereits 2012 im gesegneten Alter von fast 104 Jahren in die ewigen Notenjagdründe abgetreten. Doch nachdem Daniel Barenboim kürzlich in seiner extravagant zweigteilten „Meistersinger“-Premiere bereits eine zwischen tonlos, krächzend und durchdringend tönende Rentnergang mit Siegfried Jerusalem (75), Graham Clark (74), Olaf Bär (57), Reiner Goldberg (75) und – besonders bejubelt – dem 91-jährigen Franz Mazura hat aufmarschieren lassen, will er das am 19. Dezember in der „Traviata“-Premiere (auch schon seine zweite in Berlin) noch einmal toppen. Nicht so sehr mit dem rüstigen Regisseur Dieter Dorn (eben 80 geworden), sondern mit Annina, der treuen, bis zum letzten TBC-Huster ausharrenden Zofe der Lebedame Violetta Valery.
Dieser Charakter, nicht mal mit besonders wichtigen Einwürfen oder wenigsten einer prägnanten Textzeile (à la „Sie meint es tückisch“, dem vielzitierten einzigen Satz der Klytämnestra-Schleppenträgerin in „Elektra“) bedacht, ist trotzdem seit längerem schon eine Lieblingswitzfigur für die fortgeschrittene Operntunte. Bei Calixo Bieitos berühmter Porno-“Traviata” 2003 in Hannover, durfte Annina Trimmrad fahren, Alfredos Cabletta und den Zigeunerchor aus dem zweiten Akt singen, bevor sie am Ende mit ihrer gar nicht toten, aber sehr lesbischen Freundin Violetta vor den Gläubigern nach Brasilien flüchtete. Und Dmitri Tcherniakov, Russlands Regieschrecken mit einer Schwäche für ältere Damen, hat zur Scala-Inaugurazione im Verdi-Jahr 2013 die damals 62-jährige ehemalige Starsopranistin Mara Zampieri als sehr rothaarige Annina auf die Bühne zurückgelockt.
Daniel Barenboim hat nun freilich in der Casa Verdi, dem legendären durch den „Il Bacio di Tosca“-Dokumentarfilm von Daniel Schmid berühmt gewordenen Mailänder Künstleraltersheim, einen noch besseren Fang gemacht: die 93-Luisa Mandelli, eine nicht weiter bedeutende Kleinstrollensängerin aus dem Scala-Ensemble. Deren historischer Verdienst besteht darin, dass sie 1955 an der Seite von Maria Callas und Giuseppe di Stefano in der berühmten „Traviata“-Inszenierung von Luchino Visconti dabei war. Was auch in einem Mitschnitt dokumentiert ist. So manche Callas-Comprimaria hat später Karriere gemacht (die berühmteste wurde ihre Londoner „Norma“-Clotilde von 1952 – Joan Sutherland), nicht aber die Signora Mandelli. Doch die probt trotzdem schon fleißig.
Schließlich hat sie in ihrem Zimmer ein signiertes Barenboim-Foto mit der Aufschrift „Für Luisa, unsere ewige Annina“ hängen. Und deshalb wird die alte Dame jetzt nach Berlin verfrachtet, um nur in der „Traviata“-Premiere noch einmal die niedre Magd zu krächzen. Keiner weiß, ob sie das noch kann, ihre aktive Karriere beendete sie bereits 1964, um dann noch zwei Jahrzehnte für den Ricordi Verlag zu arbeiten. Obenstehendes Video klingt nicht sonderlich vielversprechend. Und sie ist auch nicht wirklich Teil des Inszenierungskonzepts (das einmal nict die Casa Verdi sein wird, wie kürzlich etwa beim “Falstaff”-Wettrennen zwischen Damiano Michieletto und Christof Loy, denn ab der zweiten Vorstellung wird die auch sämtliche Proben absolvierende Katharina Kammerloher wieder als Annina bereit stehen. Aber Daniel Barenboim will es ebeno so. Warum auch immer. Und – da capo – wer verbietet ihm schon was? Da darf sich der designierte Intendant Matthias Schulz also schon mal mit einem dicken Fell wappnen.
Der Beitrag Weil Daniel Barenboim es will: Auf ewig Annina erschien zuerst auf Brugs Klassiker.