Man kann sich seinen Lage ja nicht aussuchen. Fakt ist aber: Die viel zu vielen Touristen, die Rom besuchen, haben kaum Zeit aus der mit Sehenswürdigkeiten überreich ausgestatteten Stadt hinauszukommen, und wenn, dann langt es gerade einmal für Tivoli samt der Villa Adriana und den Hafen von Ostia antica. In den Norden fährt man nicht. Und die ebenfalls nicht wenigen Toscana-Touristen, die, geben dann meist spätestens in Orvieto erschöpft auf. Bleiben so etwa 120 Kilometer immer noch zu entdeckender Landschaft, mittenmang, eine so blöde, wie brillante Situation. Brillant vor allem für die, welche neugierig sind und es gerne ruhiger haben. Was aber nicht heißt, dass diese, Tuscia genannte Gegend (die hässliche deutsche Bezeichnung Tuzien vergessen wir gleich mal wieder), die ihren Namen von den einst hier ihre Stammlande verteidigenden Etruskern hat, heute ein wenig zu Umbrien, Toscana und meistenteils zu Latium gehörig, nichts zu bieten hätte: Hier gibt es uralte Kulturgeschichte, wundervolle Zeugnisse des Mittelalters, der Renaissance und des Barock, feines Essen, guten Wein, ausgesuchte Agriturismo-Herbergen und seit einiger Zeit auch ein bemerkenswertes Musikfestival, das sich dieses Jahr mit einem älteren stärkend vereint hat: das Festival Barocco Alessandro Stradella. Davon legt auch eine jedes Jahr wachsende CD-Reihe Zeugnis ab.
Am Schönsten ist es in dieser Gegend im späten Sommer und frühen Herbst, dann wenn die Sonnen tiefer steht, die Luft wieder klar ist, Frühnebel zwischen den Tuffblöcken liegt, auf denen viele der pittoresk-bedrängten Altstädte sitzen, aber das Wasser in den blitzsauberen Vulkanseen Lago Bolsena, Lago di Vico und Lago Braciano noch badewarm gluckert. Ohne Schlangen und lästige Gruppen kann man sich durch das stolze, doch gelassene, wunderfein tuffdunkle Viterbo treiben lassen, vorbei an der kitschigen Kirche mit der einbalsamierten Stadtheiligen Santa Rosa, dem etruskischen Palazzo-Museum, dem malerischen Hügel mit dem Palast der Päpste, wohin diese lange schon vor Avignon aus dem unsicheren Rom immer wieder flüchteten. Herrlich geruhsam ist es in der nahen Villa Lante, einem der berühmtesten Gärten Italiens, exklusiv, manieriert, verspielt, mit kleinen Villen, Brunnen, Becken, Bosketten, Treppen und Wasserfontänen. In Bomarzo kann man sich im heiligen Hain bei den steingewordenen Monstern, Elefanten, Sphingen, Tempeln und Türmen verlieren, die der Fürst Vicinio Orsini in einem kleinen Bachtal ab 1552 über 30 Jahre lang zu einem verwunschen anspielungsreichen Ort arrangiert hat. In Bagnoregio kann man einem der hübschesten sterbenden Orte Italiens beim touristischen, aber atmosphärischen Wiederaufblühen in einem Kraterrand zusehen (am besten nach 19 Uhr, dann aber mit lecker Abendessen).
Der Musik näher kommen wir dann im Städtchen Vignanello, da liegt, gleich gegenüber der selbstgestifteten Kirche, auf einem Felssporn das stolze, mächtige ein wenig angenagte Castello Ruspoli, mit seinen herrlichen, seit der Renaissancezeit kaum veränderten Boskettgärten. Principessa Ruspoli, hier nur Donna Claudia, geheißen, gewährt Einlass im vom als adeliger Modell-Playboy der Fifties sogar in Fellinis „La dolce vita“ eingeflossenen Onkel auf sie und ihre Schwester gekommenen Familiensitz (den Stadtpalast in Rom hält noch der Hauptzweig). Sie muss heute für Feste und Präsentationen vermieten, ihr Vorfahr Francesco Maria Marescotti (1672-1731) schenkte nicht nur dem Papst eine Armee und wurde dafür in den prinzlichen Stand des schwarzen Adels erhoben, dem in Rom nur zehn Familien angehörten, er förderte und fütterte auch auf zwei Jahre ab 1707 einen jungen, als famoso sassone gefeierten deutschen Komponisten: Georg Friedrich Händel.
Auch die Sängerin Margherita Durastanti lebte in Fürstenhaushalt, für sie entstanden einige von Händels 50 hier verfertigten Kantaten, die später als Material für seine Opernarien herhielten, aber auch die Maddalena im Oratorium „La Resurrezione“. Donna Claudia zeigt die leicht verschlissen Lüster und Sesselpracht des Speisesalons, wo wohl Händel konzertierte, sie liebt ja eher Chopin, und Großchöriges, auf einer gewellten Leinwand ist der mäzenatische Vorfahr unter seiner Weißperücke zu sehen.
Schließlich landen wir ganz in der Nähe, wieder auf einer Tuffkuppe in Nepi. Das in der Mittagshitze wie tot dösende Städtchen, wo unvermutet uralte Türstürze auftauchen, an jeder Kapelle ein Papstwappen prangt (deren Familien hatten hier alle Latifundien in der Nähe) wird immer noch von der zerfallenen Borgia-Festung überragt, später bauten die Farnese weitere Wälle und Schanzen davor. Am Dom sind antike Spolien in der Vorhalle vermauert, viel zu groß mutet das barocke Rathaus mit dem pompösen, das Stadtwappen symbolisierenden Turm-Brunnen an. Hier also wurde 1639 Alessandro Stradella geboren. Die Plakette dazu hat man aber in der Hauptstraße angebracht, damit man sie wahrnimmt. Ganz hinten, im Seitentrakt eines Klostergebäudes ist zudem ein unauffälliger Türstock mit „Accademia A. Stradella“ beritzt und mit einem Notenschlüssel verziert. Das ist schon alles, was von ihm hier blieb.
Denn er ging schnell weg von hier, aus der Provinz nach Bologna und Rom, wo er am Hof der schwedischen Exkönigin Christine auch als Geiger und Sänger beschäftigt war, später nach Venedig und Genua. Meist musste er fliehen, weil er mit adeligen Damen und ebensolchen Schülerinnen allzu vertraut wurde, gern hat man ihn als Caravaggio der Musik tituliert, nicht nur wegen seines libidinösen Liebeslebens, meist mit Anhang, der in Gestalt von Ehemännern dann gern mit Waffengewalt antwortete. Unvorstellbar, wie Alessandro Stradella zwischen diesen erotischen Irrungen, Wirrungen, vor allem aber Verfolgungsjagden noch Zeit für fast 200 Kantaten, Opern, Oratorien, Einzelarien und auch Instrumentalmusik fand.
So wie er die Grenzen der amourösen Konvention überschritt und dafür 1682 in Genua von einem Unbekannten auf der Straße niedergeschlagen wurde und 42-jährig verstarb, so experimentierte er auch mit Klangfarben und Formen. Er schuf Werke nahezu aller Gattungen und hat dabei vielfach die musikalischen Normen seiner Zeit überwunden. So gehörte er neben Massimiliano Neri zu den ersten Komponisten, die in der Gegenüberstellung von Soloviolinen und Violinchören die Bezeichnung Concertino und Concerto Grosso anwandten, eine Tradition, die später von Corelli, Torelli, Vivaldi und vielen anderen Komponisten fortgeführt wurde.
Im Zuge des wieder erwachten Interesses an der römischen Barockmusik von Scarlatti bis Vinci war es nur eine Frage der Zeit, bis auch Stradella wieder auf die Konzertpodien gelangen würde. Vorher aber hatte er sich die Opernbühnen erobert – als Titelfigur anderer Komponisten: Louis Niedermeyer, Pittaud de Forges und P. Dupont sowie César Frank mit einem unvollendeten Jugendwerk. Die sind vergessen, doch Friedrich von Flotows 1844 für Hamburg komponierte Oper „Alessandro Stradella“ wurde ein langanhaltender Romantikhit, die Tenorarie „Jungfrau Maria“ gehört bis heute zum Schmachterepertoire. Und eben hat sich Salvatore Sciarrino, Italiens bekanntester zeitgenössische Komponist und seit dem Gesualdo-Opus „Luci mie traditrice“ („Die tödliche Blume“) ein Spezialist für gewalttätige Komponistenviten, ebenfalls Stradella angenommen. Wobei seinem gerade an der Mailänder Scala im Rahmen der Feiern zu seinem 70. Geburtstag als Koproduktion mit der Berliner Lindenoper von Jürgen Flimm urinszeniertes „Ti vedo, ti sento, mi perdo“ als Warten auf Stradella den Komponisten nur umkreist, seine Musik neu- und überschreibt.
Auftritt Andrea De Carlo. Der Römer war Physiker, dann Bassgeiger, vorwiegend im Jazz, aber auch in Sinfonieorchestern, bis er sich als Gambist auf Barockmusik spezialisierte, mit sein Ensemble Mare Nostrum zum Stradella-Experten reifte. Bereits vier CDs einer mit schicken, rätselvollen Schwarzweißoptiken versehenen Edition bei Arcana/Outhere und sein Festival in den Kirchen und Sälen von Viterbo und Nepi zeugen davon. „Da gibt es noch so viel Musik zu entdecken, vor allem richtig zu spielen“, erzählt er. „Und ja, Stradella ist so wild, so grell, so revolutionär und dabei so spirituell wie Caravaggio. Besonders in den Rezitativen“.
Das sagen auch übereinstimmend so berühmte und gute Sänger wie Emöke Baráth und Xavier Sabata, denen wir in den ehemaligem Stallungen der hochherrschaftlichen Villa Farnese in Capraola zuhören während sie die dreieinhalb Stunden lange, vergessene, sogar krimihaft verschollene Oper „La Doriclea“ für die nächste Frühjahrsveröffentlichung einspielen. Das sind sehnsuchtsvolle, süchtig machende, funkeln-morbide Klänge, „man muss höllisch aufpassen, dass man das richtig phrasiert,“ stöhnt Baráth. „Ich kenne mich wirklich aus mit barocken Mustern, aber Stradella macht es immer anders, ist zum Atmen tückisch und setzt immer noch eine Koloratur an unerwarteter Stelle. Das ich höchste Konzentration notwendig. Aber es lohnt sich, schnalzt die Ungarin genießerisch, später beim Essen in einem der Nebenräume, wo zwei Frauen täglich für die Truppe kochen.
Eine Woche wird hier in der gut schwingenden Akustik Arie für Arie eingespielt, eine konzertanten Kurzfassung eröffnete das Stradella Festival extra muros im Parco della Musica in Rom. Und weil Andrea de Carlo diesmal nicht mit seinem Stammensemble, sondern mit Il pomo d’Oro in kleinster, exquisiter Instrumentalbesetzung zusammenarbeitet, ist natürlich auch dessen Förderin Donna Leon anwesend. Die amerikanische Schriftstellerin und Barockliebhaberin bekommt auch eine Führung durch die Villa, die nebenan einschüchternd thront und einen herrlichen Blick ins Tal gen Rom bietet. In der Villa quellen die fünfeckig um einen runden Hof angeordneten Räume über vor beziehungsreichen Freskenzyklen, das kaum besuchte Kleinod gehört zu den prächtigsten Gebäuden in ganz Italien, ist schöner und raffinierter noch als der berühmte Stadtpalazzo (heute: Französische Botschaft), bezahlt mit Kirchengeldern vom Papstneffen und Kardinal Alessandro Farnese.
Bisher hat De Carlo schon die Oratorien „La Forza delle stelle“, „San Giovanni Crisostomo“, „Santa Edita“ und „Santa Pelagia“ aufgenommen. Und immer mehr hat sich der Orchesterleiter verliebt in Stradellas gewagten Intervallen und Rhythmen, originellen Phrasierungen und seiner Vorliebe für langsame Tempi. Und vehement plädiert er für eine klein Besetzung, so wie wohl bei den Uraufführungen, die meist in intimeren Räumen stattfanden. „Stradellas Kunst ist eine raffinierte, nunacenreiche. Und je weniger Musiker beteiligt sind, desto durchhörbarer klingt es. Aber desto hochwertiger müssen die Interpreten sein.“ Der akustische Eindruck bei den „Doriclea“-Aufnahmen bestätigt dies, ebenso die diversen Festivalkonzerte. An denen ist auch gezielt musikalischer Nachwuchs integriert, ein vorbildliches Projekt im Krisen geschüttelten italienischen Kulturleben.
Viele schöne Konzerte hören kann beim Scarlatti Festival in den uralten Kirchen von Viterbo und Nepi, die nicht selten über heidnischen Tempeln erbaut wurden. Und jedes Mal sind wir dann gerne zurückgekehrt nach Civitella d’Agliano, in die Höhle des Igels, den alten Familiensitz der Motturas, wo Alessandra und Sergio wunderbare Gastgeber sind und gern ihre feinen Weine ausschenken, die zum Teil in 2500 Jahre alten Kellern gelagert werden. Zwar muss man jedes Mal ein wenig schwitzen, wenn man das enge Tor in der oberen Stadtmauer mit dem Auto durchfährt, aber dahinter wartet mit La Tana dell’Istrice wirklich ein Hort ungezwungener italienischer Gastlichkeit, mit ruhigen Zimmern, wo man bei geöffnetem Fenster nur das Plätschern eines Brunnens hört, mit feinem Essen und feineren, lange schon ökologisch angebauten Weinen, die bei ausführlichen, gehaltvollem Testtrinken bis zur Neige genossen wurden. Im Weinberg-Pool kann man sich herrlich erfrischen und ist wieder bereit für Tuscia – für Monumente, Mahlzeiten und Musik.
www.festivalstradella.org
www.sergiomottura.com
Der Beitrag Italienische Entdeckungen: Alessandro Stradella und Tuscia erschien zuerst auf Brugs Klassiker.