Ich fühlt mich wie Weihnachten! Obwohl es noch Vorweihnachtszeit ist. Ich darf in die Sixtinische Kapelle! Nicht im Touristenpulk, zehn Minuten Genickstarre, geschoben und getreten. No flash! schreit dazu der Wächter und es blitzt doch dauernd. Die meisten im mehr oder weniger interessierten, aber unbedingt Selfie-heißen Touristenpulk sind sowieso schon erschöpft von den kilometerlangen, von mehr oder weniger kompletten Marmorstatuen flankierten Korridoren der Vatikanischen Museen, sind vorbeigepilgert an antikem Krempel und moderndem Papstgeschenke-Tinnef, Weltkunst und zeitgenössischen Devotionalien. Da bleibt fast schon keine Zeit und keine Geduld mehr für das himmlische Gewölbe Michelangelos am Ende des Parcours, die zauberhaften Renaissance-Fresken anderer Maler wie Botticelli, Perugino und Ghirlandaio auf halber Höhe und natürlich das Edelgewimmel des Jüngsten Gerichts. Immerhin: Einmal hatte ich das alles schon – fast – für mich. Bei einer Separatführung morgens um acht Uhr, vor der regulären Museumsmassenöffnungszeit. Und jetzt wieder, denn die zwei traditionellen Jahresendkonzerte des hier ansässigen Chors, offiziell die Capella Musicale Pontificia „Sistina“, die machen es möglich. Dieses Jahr sogar zusätzlich noch – innerhalb der päpstlichen Mauern! – mit einer singenden Dame: Cecilia Bartoli.
Die ist in der auch für die darbende Plattenindustrie besonders gewinnträchtigen Jahresendzeit nicht nur mit ihrer cellotönenden Sparring-Partnerin Sol Gabetta zum „dolce duello“ aus Barockarien und –konzerten durch die Auditorien unterwegs, die berühmteste Mezzosopranistin der Welt hat – unchristliches Stichwort: Cross-Promotion – auch einen innerbetrieblichen Miniauftritt auf der dritten Deutsche-Grammophon-CD eben dieses Ensembles. Schließlich gehört ihre Plattenmutter Decca längst zum Universal-Konglomerat. Und ja, Santa Cecilia, geborene Römerin, ihr kam natürlich die Ehre zu, nicht als erste Dame (schöne Legende! Es gab schon gemischte Gastchöre), aber als erste Solistin in diesem schon wegen der diversen Konklave-Kabalen nicht unbedingt heiligen, aber durch Michelangelo & Co zumindest kunstvergöttlichen Raum ihre immer noch erstaunlich frische, warm-gutturale Stimme während der im Februar, Mai und September in situ vorgenommenen Aufnahmen im semisakralen Kapellenstudio erschallen zu lassen.
La Ceci konnte sich zudem – alle haben gezittert – aus Opernverpflichtungen in Monte Carlo frei machen, um nun die 3 Minuten und 48 Sekunden des „Beata viscera Marie Virginis“ auch live in der Sixtina (und als dolce Michelangelo-duello) erschallen zu lassen. Ja doch, es verursachte Gänsehaut. Auch wenn Bischof Gänswein (krank) und sein päpstlicher Chef (anderweitig verhindert) nicht anwesend waren.
Und das nicht nur, weil dieser anrührende Gesang über die „gesegnete Gebärmutter der Jungfrau Maria“, wie ihn wohl um 1200 Pérotin, Magister an der Pariser Kathedrale Notre Dame und bedeutendster Komponist der gleichnamigen Schule, in Noten gesetzt hat, mit archaisch schöner Schlichtheit erklingt. Es ist natürlich auch diese sehr besondere Einheit von Raum und Akustik, Aura und Anlass, die das vollbringt. Es klingt hier nämlich wirklich gut, intim und warm, in der Mitte des langgezogenen Auditoriums besonders – aus architektonischen Gründen, aber natürlich auch weil direkt hier, über mir, Gott dem Adam seinen göttlich behauchten Finger zwecks Erschaffung entgegenstreckt. Diese farb- wie muskelstrotzende, perspektivisch sich dehnende und streckende Freskenpracht können jetzt ich und die anderen Kleriker wie weltliche Zaungäste zwei Stunden lang schamlos betrachten, umspülten und getragen von gregorianischen Weisen wie von den adventlichen und weihnachtlichen Melodien eines Palestrina, Nanino, Mouton, de Victoria und Allegri, viele von ihnen einst hier auch Kapellmeister und Chorleiter. Sonst eiert hier tagtäglich Vokalgeistliches aus der Konserve, kein Tourist hört zu, doch wirklich gesungen wird in der Sixtina heute nur noch allzu selten. Die Capella Musicale Pontificia „Sistina“ lässt sich deshalb bei päpstlichen Messen im Petersdom vernehmen, oder bei anderen Gelegenheiten an anderen Orten, mit mittelalterlichem wie gegenreformatorisch raffinierten Gustostücken.
Im Jahr 600 wurde dieser Chor gegründet, er ist der älteste, traditionsreichste der Welt, wenn auch mit Lücken des apokryphen Schweigens. Seit 500 Jahren aber singt er in diesen Mauern. Und mögen jetzt die Knaben zumal hörbar nervös, der Gesamtklang im Vergleich zu guten Profichören längst nicht perfekt und harmonisch abgemischt sein, keiner kann mit einem solchen Konzertsaal und einer solchen Historie aufwarten. Als Nachfolger Palestrinas amtiert seit 2010 als Leiter der 30 Knaben und 20 Männer, die zwar noch in Rom leben, aber nicht mehr Italiener und unverheiratet sein müssen, der von Papst Benedikt XVI. eingesetzte Salesianerpater Massimo Palombella. Und er, der ganz profan mit einem iPad als Notenspeicher hantiert, hat es immerhin geschafft, das Ensemble, in dem sich noch bis 1904 der letzte Kastrat Alessandro Moreschi als Vollender einer eher unseligen 300 Jahre währenden Tradition vernehmen ließ, aus dem Schattenreich des partiellen Verdämmerns und gnädigen Vergessens als „sixitinische Schreihälse“ zu revitalisieren.
Die Deutsche Grammophon, deren Aufnahmeteam inzwischen schon fast selbstverständlich, von den Schweizer Gardisten abgenickt zwischen St.-Anna-Tor, Sistina und Gästehaus Domus Sanctae Martae (wo auch der aktuelle Papst Franziskus wohnt) pendelt, weiß solches natürlich souverän zu inszenieren und zu kommerzialisieren. Der Vatikan selbst aber ist der allergrößte Meister im Jahrtausende geübten sich Entfalten von Ritualen und Spektakeln als Zeremonien der Glaubensmacht. Alles ist hier schon vor Konzertanfang perfekt in seiner Überhöhung des Ereignisses: der Gang durch die Via della Conciliazione, der Sonnuntergang hinter der als Schattenriss erscheinenden Basilika am Petersplatz, das Abbiegen unter den Bernini-Kolonaden an den Security-Schlangen vorbei zum Portone di Bronzo. Wir passieren rechts Berninis Heiligen Konstantin zu Marmorpferde und steigen über die von ihm perspektivisch verjüngte Scala Regia hinauf und hinein in den Sixtina-Vorraum, die Sala Regia.
Hier fanden früher die die königlichen Audienzen vor den Päpsten statt, jetzt haben wir Wartezeit, uns die verschwenderischen Fresken von Vasari, den Zuccari-Brüdern und Lorenzo Sabatini visuell einzuverleiben. Vor allem die Seeschlacht von Lepanto mit manierlich gestaffelten Schiffsrümpfen, die Türkenbarbaren attackierenden Skeletten sowie einer wie ein weiblicher Papst anmutenden Allegorie mit Tiara bereiten Sehspaß. Links lockt die sonst ebenfalls nie zu besichtigende Capella Paolina mit zwei weiteren Michelangelo-Fresken. Und von hier geht es ebenso in die Sala Ducale mit dem einen Gipsvorhang raffenden Stuckengel-Portikus von ebenfalls Bernini, wo später die Bartoli, ganz taffe Businesswoman im Hosenanzug, geduldig Interview um Interview in Kameras und Mikrofone sprechen wird.
Für CD wie Konzert wurde eine ansprechende Mischung aus meistenteils polyphoner Musik von der Gregorianik über Mittelalter und Renaissance aus den zum Teil noch nie veröffentlichten, erstmals in der Neuzeit hier wieder zu Gehör gebrachten Manuskripten des Sixtina-Archivs in der Vatikanischen Bibliothek ausgewählt. Doch sie sind heute trotz der besonders hier gepflegten, sich sanft mischenden Mezza-Voce-Technik des legendären Chores nur schöne Begleitmusik, während man mit viel Zeit und Muse, bequem sitzend und ohne sich den Hals zu verrenken, die Augen gemächlich über das Malwunder der Genesis- und Noah-Bildfolge an der Decke gleiten lässt, über Michelangelos männlich anmutende Sybillen und mächtuige Propheten, einen Gottvater mit jugendlich kompaktem Hintern und gespreizt platzierte Ignudi, vorbei an der namentlich kaum fassbaren Familie Jesu, über die später eingefügten schamhaften Schürzchen des Daniele di Volterra, verteilt über Selige wie Verdammten an der Wand des Jüngsten Gerichts.Kontemplation und Meditation, bildende Kunst, Musik und Glaubensinhalt, als über Jahrhunderte hier geschmiedete Einheit. Das alles wird – eben auch hier und jetzt – vom Instrumentarium einer modernen Mediengesellschaft von Fotografen, zudem einem Filmteam mit der letzten 4K-Audiotechnik und dem allerletzten Objektivschrei begleitet. Doch auch wenn diesmal nicht, wie bei Paulus, die Frau in der Kirche zu schweigen hat, die technischen Geräte müssen es ausnahmslos tun, wenn die Stimme der Bartoli in der sixtinischen Wunderschachtel erschallt. Sie weiß zu gut: Eine Einsingprobe, das langt nicht für eine optimale, ihrem Perfektionsdran entsprechende Leistung für die Ewigkeit. Also ist es nach den drei Minuten und 48 Sekunden schon wieder vorbei, für immer. Nur die CD gibt ein Abbild davon.
Und wie berauscht und benebelt, dabei ohne jede Alkoholpromille, lasse ich mir noch schnell das auf der kleinen Sängerkanzel rechts hinter der Orgel in die Wand geritzte Monogramm des eben noch vernommenen Josquin Desprez zeigen, der von 1489-95 in eben diesem Chor gesungen hat. Über den Papageien- und Damasus-Hof des Apostolischen Palastes, wo oben, hinter den Vorhängen, die verglasten Raffael-Loggien liegen, durch ein karges Treppenhaus, über einen kleine Tür, vorbei am Wehrturm der Vatikanbank und der Gardekaserne, geht es wieder in die irdische Realität außerhalb der Vatikanmauern. Die bescheidene leibliche Genüsse bereithält – wie herrlich zarte blanchierte Jung-Artischocken!
Veni Domine: Advent und Weihnachten in der Sixtinischen Kapelle. Capella Musicale Pontificia „Sistina“, Cecilia Bartoli, Massimo Palombella (Deutsche Grammophon)
Und am 26. Dezember folgt noch ein Interview mit Cecilia Bartoli über ihren wenn auch kein letztes katholisches Geschlechtertabu zu Fall bringenden, trotzdem denkwürdigen Auftritt.
Der Beitrag Brugs Beste: Nummer 23 – Santa Cecilia Bartoli erwartet mit dem Chor der Sixtina den Herren erschien zuerst auf Brugs Klassiker.