Sein Vater Arvids Jansons wurde nur 70 Jahre alt, bevor ihn ein Herzinfakt am Pult niederstreckte. Mariss Jansons wäre es 1996 bei einer La Bohème“-Aufführung fast ähnlich gegangen. Doch heute darf eine glückliche Musikwelt den 75. Geburtstag eines ihrer beliebtesten und besten (was nicht unbedingt zusammengeht) Maestri feiern. Woran natürlich auch seine ebenso nette, aber was die Disziplin ihres Mannes angeht, eiserne Frau Irina ihren nicht unwichtigen Anteil hat. Er selbst hat sich gestern mit einem Gastspiel des Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks in der Hamburger Elbphilharmonie feiern lassen. Wie überhaupt die Symbiose mit dem Münchner Eliteklangkörper eine sehr besondere ist. Zufriedenheit. Freunde am eigenen Tun. Bescheidenheit, aber auch Unbedingtheit in entscheidenden Fragen. Fähigkeit zur Freundschaft. Großzügigkeit ohne viel Aufhebens zu machen. Das alles sind nicht unbedingt Eigenschaften, die es in genau dieser Bündelung braucht, um zu einem der berühmtesten, meistgefragtesten und noch dazu wirklich geschätzten Dirigenten des gegenwärtigen internationalen Musiklebens heranzureifen.
Mariss Jansons ist freilich genau dies gelungen. Ohne Skandale, ohne überehrgeiziges Taktieren, noch nicht einmal mit einem auf den ersten Blick besonders ausgeprägten Persönlichkeitsstil. Jansons ist ein Phänomen an Freundlichkeit. Einer, der sein Ego ganz weit hinten in der Seele angesiedelt hat, es aber durchaus herauszuholen versteht, sehr stur werden kann, wenn ihm etwas nicht passt. Einer, der über gar kein so riesiges Repertoire verfügt, sich nie spezialisiert hat – außer dass er ein wirklicher Experte der Musik Schostakowitschs ist, was in seiner Generation noch seltener war.
Er ist das rare Beispiel eines Allrounders, der fast alles auf gleich hohem Niveau zu spielen und zu interpretieren versteht. Und der dabei eigentlich nie Extreme auslotet, den, so weit möglich, objektiven Blick auf eine Partitur wagt. Der aber auch niemals routiniert klingt. Ob Mariss Jansons Beethoven und Haydn, Mendelsohn und Brahms, Tschaikowsky und Mahler, Rachmaninow und Strauss, Strawinsky, Schönberg und Varèse dirigiert – man hat immer und sofort das Gefühl, dass es richtig ist, dass die Proportionen stimmen, das einer nie überzogene, zu eigenwillige Schlüsse aus dem skrupulösen Partiturstudium zieht.
Er ist kein Überwältiger, aber er kann laut werden, er ist kein Grübler, aber er kann es wunderbar tiefsinnig klingen lassen. Er ist kein trockener Strukturenfledderer und kein Himmelstürmer, und doch hört man bei ihm genau hin, klingt alles irgendwie anders, im Lot, einfach fast – was ja bekanntlich das Schwerste ist. Er mag keine blankpolierte Ästhetik, aber bei ihm tönt es delikat, schön und human, dabei schlicht und ehrlich. Da agiert „a real Mensch“, ein Jude aus Riga, mit Herz und Verstand. Konzerte mit ihm sind eine Besonderheit klingender Freude, auch wenn die gewählten Werke vielleicht von anderem künden.
Geboren wurde er am 14. Januar 1943 in Riga als Sohn des lettischen Dirigenten Arvīds Jansons. Seine Mutter Iraida, eine jüdische Sängerin, brachte ihn in einem Versteck zur Welt. Später wurde das Opernhaus Kinderstube und Wohnzimmer. Die doppelte Ausgrenzung, als Lette und Jude, bekam Mariss Jansons, der 1956 seinem Karriere machenden Vater nach Leningrad gefolgt war, wo er bis heute sehr gerne lebt, in den Nachkriegsjahren in der UdSSR oft zu spüren. Er konterte sie mit Leistung, mit dem unbedingten Willen, zu glänzen, der Beste zu sein.
In Leningrad, wo er die Musikschule und das Konservatorium besuchte, prägte ihn der legendäre, auch legendär strenge Jewgeni Mrawinski, dem sein Vater bei den Philharmonikern assistierte, 1969 ging er nach Österreich, wo er seine Ausbildung bei Hans Swarowsky und Herbert von Karajan fortsetzte, die ihn beide ebenfalls stark beeinflussten. Russische Disziplin und deutscher, rotgoldener Glanz, das verband er auf das Beste. 1973 wurde er, wie sein Vater zuvor, stellvertretender Dirigent der Leningrader Philharmoniker. Von 1979 bis 2002 war er Chef des Oslo Philharmonic, das er erstmals auf die internationale Klangkörperkarte brachte und mit dem er für die EMI eine Vielzahl gewichtiger Aufnahmen einspielte. In den Neunzigern weitete Mariss Jansons seine internationalen Aktivitäten aus, war regelmäßig beim London Philharmonic Orchestra zu Gast, stand 1997-2004 dem Pittsburgh Symphony Orchestra vor. Hier folgte er auf Lorin Maazel, wie auch 2004 in München, auf dessen exzellenter Orchesterarbeit er aufbauen konnte, doch machte er beide Klangkörper weicher, flexibler, leitete die Musiker stärker zum Aufeinanderhören an, so wie er es auch in kontinuierlicher Jugendarbeit vermittelt. 2004-15 leitete er zudem das Amsterdamer Concertgebouw Orchest.
So sind seine Dirigate noch gewichtiger geworden, dabei paradoxerweise von einer Leichtigkeit des Handwerklichen, die schwer erarbeitet ist. Die aber auch wunderbar loslassen kann, wie seine delikat beschwingten Auftritte beim Wiener Neujahrkonzert 2006 und 2012 belegten. Und wenn er dann doch an ein Opernpult zurückkehrt, wie in diesem Sommer bei den Salzburger Festspielen mit Tschaikowskys von ihm so geliebter „Pique Dame“, dann ist das Mariss-Jansons-Glück vollkommen. Hoffentlich noch viele ergiebige Dirigentenjahre. In München läuft sein Vertrag vorerst bis 2021. Gut möglich, dass seine Frau doch noch ein weitere Verlängerung zulässt. Ist es doch sein erklärter Wunsch, den von ihm maßgeblich angestoßenen neuen Münchner Konzertsaal (für den er auch die Geldsumme des Siemens Musikpreises gestiftet hat) zu eröffnen…
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