Das Beste was man über Christian Spuck als Ballettdirektor sagen kann: Er lässt vielerlei und meist erstklassige Handschriften zu. So kann das Zürcher Tanzpublikum nach jahrelanger Heinz-Spoerli-Schmalspurdiät diverse, für hier frische Choreografen neu entdecken. Darunter können aber nicht nur Schwergewichtler sein, es finden sich eben auch dekorative Leichtfüßler wie aktuell zum wiederholten Mal das Ehepaar-Duo Sol León/Paul Lighfoot, die seit 2012 für die künstlerischen Geschicke des Nederlands Dans Theater zuständig sind. In der jüngsten, mit nur einer Stunde Spielzeit für zwei Stücke sehr schlanken und orchesterlosen Zürcher Ballettpremiere bestritten sie das Auftaktopus.
„Speak for Yourself“ ist zwar schon 19 Jahre alt, aber von puristischer, zeitloser Nettigkeit. Zu etwas art noise von Steve Reich, der einigen, wie immer atmosphäresatt-puristischen Klavierfugen von Johann Sebastian Bach, in unterschiedlichen Interpretationen wiederholt Platz machen, sind insgesamt sechs Herren und drei Damen in kurzen, grauen, bald feuchten Boddies zu sehen. Wichtig ist das Licht (von Tom Bevoort), das die Köper oftmals im Dämmerschein plastisch skulpturiert. Und wichtiger als die eher faden, vorhersehbaren Bewegungen sind zwei andere Elemente, die das Stück sehr stark prägen. Ein Rauchpatrone am Rücken eines Mannes, der zunächst allein die Bühne stoßweise vernebelt, was sich prima anstrahlen lässt. Später fällt bisweilen farbig illuminierter Sprühregen über die Tänzer hinweg, zunächst könnte man ihn mit seinem leichten Verwehungen und wie aus Duschköpfen herabsprenkelnd auch für Sand halten. In insgesamt 200 Litern Wasser spiegeln und schlittern dann die Protagonisten in gefährdet wirkender, immer langsamerer, doch stets adrett bleibender Bewegung dahin.
Feuer und Nässe als alchemistischer Kontrast. Zunächst kommt ein Mann nach dem anderen aus dem dunklen Bühnenhintergrund, tanzt für sich allein, mal weit ausholend, mal abgehackt kurzatmig, mitunter synchron, oft Bewegungsmuster der Vorgänger aufnehmend. Dann folgen die Frauen, die sich zum Trio fügen. Bis am Ende drei kurze, langsame Pas de Deux, von den beiden überzähligen Männer (der sechste, das Räuchermännchen, ist schon wieder verschwunden) solistisch unterbrochen, sich ruhig entwickeln – bis sich alle wieder von der Szene entfernt haben. Das ist schön anzusehen, die Zürcher Tänzer zeigen viel Ausdruckskraft und Individualität trotz der glatten Choreographie. Aber über ein dekoratives Spiel mit Materialen zur immer wieder packenden Bach-Musik reicht das in seiner modischen Unverbindlichkeit nicht hinaus.
Da ist das zweite Stück des Abends schon von ganz anderem Kaliber. „Emergence“, das wortspielt mit „Entstehung“, aber natürlich auch mit „Emergency“ – „Notfall“, ist zwar auch nicht ganz frisch, es kam 2009 in Toronto heraus, aber Crystal Pite, ebenfalls Kanadierin, seiner 47-jährige Schöpferin, hat gegenwärtig in der Tanzwelt einen ziemlich guten Lauf: weil sie eine Frau ist, weil sie etwas auf sehr individuelle, dabei versatile Weise zu sagen hat, sechs Jahre bei Billy Forsythe in Frankfurt tanzte, ihre eigene Company in Vancouver führt, aber auch sehr gut in der Ballettwelt andocken kann. Sie hat für das Nederlands Dance Theatre gearbeitet, für die Pariser Opéra (wo nächstes Jahr ein abendfüllendes Werk von ihr ansteht), wurde in Wiesbaden nachgetanzt und auch das neuformierte Staatsballett Berlin müht sich um sie. In Deutschland wird, wie man hört, wohl etwas von ihr bei den kommenden Movimentos Festwochen in der Autostadt Wolfsburg zu sehen sein. Und Zürich bekam jetzt ihren Klassiker „Emergence“, ihr einziges Opus auf Spitze.
Sie hat sich dafür in der Anfangsphase vom Sozialverhalten der Bienen beeinflussen lassen, dann wollte sie wissen, wie die einzelnen Mitglieder einer Ballettkompanie aufeinander regieren. Und etwas Schwarmhaftes, Insektenartiges zeichnet auch das vielgestaltige, 36-köpfige Corps de ballet aus. Mit ihren schwarzen Pluderhosen und Tattoos auf nackter Rückenhaut (die Männer) sowie knallengen, lackglänzenden Korsagen (die Frauen) von Linda Chow atmet das düster ausgeleuchtete Stück freilich auch mehr als nur einen Hauch von Grufti Gothik und gepflegten S/M-Fetischklamotten. Dazu kommen bei den ersten Auftritten insektenartige Kopfmasken, die die Menge noch gleichfömiger aussehen lassen. Hinten fügen sich auf goldenen Paneelen von Jay Gower Taylor schwarze Piktogramme ebenfalls zur Masse, die in einen Tunnel mündet, hinter dem eine Scheinwerferbatterie gleißt.
Während sich Owen Beltons electronic score ebenfalls träge-dunkel mit langen Liegeakkorden dahinwälzt, eine sinistre Lauerstimmung erzeugt, formieren sich erst die Männchen zur trampelnden Marschordnung, dann ballen sich die Weibchen nervös auf Spitze zum Klumpen. Wie aus einem Bau schießen sie aus der Röhre, fluten die Bühne nach vorne, lauern, umkreiseln sich und sind plötzlich wieder verschwunden. Erinnerungen an Marco Goeckes ebenfalls schwarzromantische Flatterwesen oder an Matthew Bornes männlichen „Schwanensee“ kommen auf, doch Chrystal Pite unterläuft durch ihre originellen Arrangements und Formationen jegliche Erwartungshaltung. Immer scheinen die Impulse von wenigen auszugehen und die Umstehenden mitzureißen.
„Emergence“, das dem Abend auch den Titel gibt, ist viel langsamer, als man erwarten dürfte. Die Zürcher Tänzer schmeißen sich voll rein, strahlen eine reptilienhaft sinnliche Spannkraft aus, kraftvoll, biegsam, immer auf der Lauer. Stetig sondern sich Individuen aus dem Kollektiv ab. Einmal tanzen drei Frauen eine rhythmisch konturierte Passage, die etwas unerwartet Spanisches bekommt, dann buhlen drei Männer um eine Frau. Doch meist dominiert die Gruppe, synchron oder durcheinander die Bühne, scheinbar führungslos, freilich von einer höheren Ordnung traumsicher und –schön geleitet. Bis der atemraubende Spuk plötzlich wieder verschwunden ist. Und das erstaunlich junge Publikum in lauten, langen Jubel ausbricht.
Der Beitrag León/Lightfoot und Crystal Pite beim Ballett Zürich: öde Elemente und packendes Schwarmverhalten erschien zuerst auf Brugs Klassiker.