- Man muss sich die Heidelberger und Mannheimer als glückliche Menschen vorstellen. Jedenfalls wenn sie Opernliebhaber sind, speziell der Barockepoche zugeneigt. Denn zusätzlich zu den Schwetzinger Festspielen des SWR, die jeweils im Spätfrühjahr ein Musiktheaterwerk des 18. Jahrhunderts beinhalten, gibt es ja seit 2006 im mollig warmen frühklassizistischen Theater den vom Heidelberger Theater ausgerichteten „Winter in Schwetzingen“ mit einer weiteren Oper und diversen Rahmenveranstaltungen. Zunächst kümmerte man sich um die damals gerade auch in Deutschland wiederentdeckten Vivaldi-Opern. Seit 2011 der neue Operndirektor Heribert Germeshausen dafür verantwortlich zeichnete, lag der Schwerpunkt auf der Neapolitanischen Oper; wobei die auch mal woanders uraufgeführt worden sein durfte. Nach zum Teil erstaufgeführten Werken von Alessandro Scarlatti, Porpora, Traetta, Jommelli, Vinci und Zingarelli (der die Epoche bis an den Rand des 19. Jahrhundert weitete) kehrte Germeshausen für sein Finale (und auch für sein letzte Premiere vor seinem Wechsel nach Dortmund) noch einmal zu Nicola Antonio Porpora zurück und zeigte dessen „Mitridate“ in der von Händels parallelem Opernunternehmen herausgeforderten Londoner Zweitfassung von 1736.
Der Komponist und berühmte Pädagoge für seine noch berühmteren Kastratenschüler Antonio Uberti (der sich zu Ehren seines Lehrers Porporino nannte), Farinelli und Caffarelli genoss lange keinen besonderen Ruf. Zu farblos und virtuos, ohne wirklichen von der Muse geküsst zu sein, nervöse Nähmaschinenmusik also, so lautete das kaum überprüfte Verdikt. Inzwischen ist der auch in Schwetzingen schon vorgestellte „Polifemo“ längst als doch weit origineller respektiert, ebenfalls der gerade von Max Emanuel Cencic und seiner Koloratur-Equipe frisch eingespielte „Germanico in Germania“ (Decca) lässt aufhorchen.
Und, wie jetzt – anlässlich seines 250. Todestages – zu erleben, auch Porporas in Deutschland erstaufgeführter „Mitridiate“ hat seine Qualitäten. Spannungsvoll sind die Rezitative, die oft als versatile Accompagnati gestaltet sind. Porpora versucht sich immer wieder darin, die unterschiedlich langen, dramatisch und dramaturgisch glaubwürdigen Arien nicht nur als Brillantfeuerwerke abzuspulen, sondern sie auch in einen größeren Szenenkontext einzubinden. Pro Akt gibt es zwei Duette. Und: die zweite Hälfte des Dreiakters ist sogar noch spannender als die erste, in jedem Fall reifer und klüger konzipiert als Mozarts Jugendoper von 1770.
Geht es doch hier um den wenig sympathischen, in einen Krieg gegen die Römer sowie einen Generationenkonflikt verstrickten Mithridates IV., König der Ponter, der seinen beiden untereinander um die Nachfolge konkurrierenden Söhnen jeweils die Frau ausspannen möchte und am Ende selbst dran glauben muss. Als Gegenüber des weißblaugrauen Logenrund im ehemaligen Duodez-Theaterchen hat Bühnenbildnerin Madeleine Boyd das wenig variierte Einheitsbild eines halbzerstörten orientalischen Palastsaals mit Rokokostühlen auf die Bühne gestellt. Im ersten Teil liegt da ein seltsamer Opferstein als von der Decke herabgefallener Riesenbrocken auf dem Boden, um den alle Beteiligten herumeiern. Im zweiten Teil öffnet sich das Bild nach hinten, Schwärze und Gitter dräuen da. Selbst die Herrschenden sind unfrei, am Ende sind sie von Soldatenschuhen sowie abzugsbereiten Selbstmordattentätern umkreist. West und Ost finden sich stilistisch in den Uniformen, Roben und Alltagskleidern von Sarah Rolke. Auch viele Maschinengewehre (golden für Mitridate!) gibt es.
Das barockroutinierte Intrigenspiel, das hier einmal mehr eine dysfunktionale Regentenfamilie in all ihrer Niedertracht uns Verzweiflung vorführt, wird von Regisseur Jacopo Spirei eher dekorativ auf die Bühne gebracht und als wohlgefälliges Arrangement ausgestellt. Dringlichkeit und Glaubwürdigkeit verleihen ihm vornehmlich die vorzügliche musikalische und vokale Ausgestaltung, die schwierigen Rollen wurden glänzend bewältigt – waren im opernkonkurrenzharten London doch damalige Superstars wie die Kastraten Farinelli als sanftmütiger Sifare und Senesino (Mitridate), die brillante Francesca Cuzzoni (Semandra) und der von Händel so geschätzte Bassist Antonio Montagnana als deren Vater Arcelao aufgeboten.
In Schwetzingen herrscht Felice Venanzoni flexibel und abwechslungsreich über ein vergleichsweise üppiges Philharmonisches Orchester Heidelberg mit Hörnern, Oboen, Fagotten und Flöten. Ein wahres Duell der (heutigen Countertenöre) liefern sich Ray Chenez als Sifare, fein moduliert und sehr beweglich, sowie der reifere, nachdrücklicher, metallisch differenziert nicht nur auf Schönklang setzende Mitridate von David DQ Lee. Die orgeln sich mit Ferve durch ihre Bravourarien, finden aber auch leisere, komtemplativere Töne. Yasmin Özkan gefällt als lyrisch-zarte Semandra mit schimmerndem Timbre, das sich besonders in den wundervollen Duetten mit Chenez harmonisch mischt. Shahar Lavi ist ein fies-sinistrer Farnace mit wenigen Farben. Katja Stuber bleibt ein wenig eindimensional sopransüß als seine Braut Ismene; Zachary Wilson singt raustimmig den Archelao.
Und so hat dieser „Winter in Schwetzingen“ einmal mehr bewiesen: In der barocken Kiste sind immer noch faszinierende Stückentdeckungen zu machen. Man kann gespannt sein, ob Heribert Germeshausen diese Erkenntnisse mit ins ungleich größere Dortmund nehmen wird. Dort jedenfalls hätte er eine willige Balletttruppe zur Verfügung. Geht da vielleicht was in Richtung opulenter, zumindest personalintensiver französische tragédie lyrique? Das Heidelberger Theater wird das inzwischen bestens eingeführte, auch international aufmerksam registrierte Schwetzinger Spezialfestival sicherlich weiterführen. Wenn auch mit neuem Programmschwerpunkt.
Der Beitrag Schwetzinger Barock: Der diesjährige Wintertrüffel à la Porpora hieß „Mitridate“ erschien zuerst auf Brugs Klassiker.