„Die Entarteten“: 1918, als die Bewegung eines neuen, postwagnerischen Opernaufbruchs hin zu zeitgemäßen, auch modernen Stoffen auf einem ersten Höhepunkt glühte und 1933, als alles vorbei war, die meisten Komponisten vor den sie mit ihrem bösen Kampfbegriff denunzierenden und verfolgenden Nazis ins Exil fliehen mussten, sei es wegen ihres Glaubens oder ihrer Ästhetik – diese beiden Jahreszahlen markieren also eine ungemein produktive Epoche in der deutschen Musiktheatergeschichte. Wenig war davon zunächst übrig geblieben, die Nachkriegsavantgarde wollte davon nichts mehr wissen, inzwischen glänzen und glimmern diese lange verborgenen Schätze immer wieder mal in den Spielplänen. Und eben war es sogar möglich, an zwei aufeinander folgenden Tagen in Lyon und Berlin gleich zwei der bedeutendsten Werke jener Zeit zu erleben: Alexander von Zemlinskys immer noch kaum gespielten, dabei süffig ausgezirkelten „Kreidekreis“ nach Klabund, dessen Thema Brechts späteres Stück einengte und berühmter machte, und Franz Schrekers Opus Magnum „Die Gezeichneten“.
1933: „Arabella“ von Richard Strauss und dem längst toten Hofmannsthal ist in Dresden das erste Opernuraufführungsmanifest der braunen Machthaber. Fritz Busch ist längst im Ausland, der karrierebewusste Karl Böhm springt untertänig am Dirigentenpult ein, rührt in sämig rückwärtsgewandter Wiener Schmäh-Sauce. Eigentlich sollte es aber das Jahr von Alexander von Zemlinsky werden. Er, wichtige Figur der Wiener Musikmoderne, Dirigent und Komponist, Liebhaber Almas und Wegbereiter Gustav Mahlers, Schwiegersohn Schönbergs, Lehrer von Berg und Berater Weberns, wollte mit seiner siebenten Oper so richtig durchstarten. Exotismus war in Mode, Puccinis „Turandot“, Lehárs „Land des Lächelns“ und Zemlinskys eigene „Lyrische Symphonie“ dominierten die Spielpläne. Da kam das auf einer dem salomonischen Urteil der Bibel wie auf einem chinesischen Mythologie fußende, von Elisabeth Bergner bei Klabund bestellte Erfolgsstück „Der Kreidekreis“ gerade Recht.
Berlin, Frankfurt, Köln und Nürnberg wollten simultan die Uraufführung stemmen. Alle erwarteten Großes von diesem Werk, das ganz zeittypisch experimentierte, Melodram, Jazzsaxophon, Shimmy, Pentatonik und silbrige Belcanto-Emphase zu einem fein tönenden Ganzen verwob. Durchscheinend ist die Partitur, verweht sind die symbolischen Schwülstigkeiten früherer Werke. Zürich bot sich schließlich für die Uraufführung im Oktober 1933 an. Ein paar deutsche Bühnen trauten sich doch, dann folgte das Vergessen – und erst 1955 Essen, 1983 Hamburg, 1996 Kaiserslautern und zuletzt 2003 Zürich spielten „Den Kreidekreis“ nach.
Und wieder begeistert die ökonomische, bunte, aber punktgenau gesetzte Polystilistik dieser etwas über zwei Stunden langen Partitur, die Lothar Koenigs präzise, aber durchaus auch mit Klangraffinement zwischen pentatonischem Weill, Filmmusik und stachliger Avantgarde auffächert. Es ist Zemlinskys letzte vollendete Oper und er zieht hier noch einmal alle Register, von der schmissig beckenkreiselnden Tanzmusik des Anfangs wo einer mittellos gewordenen Mutter nichts bleibt, als ihre Tochter in ein Bordell zu verkaufen, bis zur Schneeeinöde des verzagten Finales, das sich doch noch parabelhaft in ein sachlich tönendes Happy End wendet, wenn die arg malträtierte Haitang schließlich zur Kaiserin von China aufsteigt.
Das freilich mag der in Frankreich sowohl im Schauspiel wie in der Oper bekannte, regelmäßig in Lyon arbeitende Regisseur Richard Brunel so nicht gelten lassen. Ähnlich wie kürzlich Stefan Herheim in seinem Düsseldorfer „Wozzeck“ sieht er das Ende als die zerplatzende Euphorie-Illusion einer offiziell zu Tode Gespritzten, die schon vorher von dem verlotterten Richter Tschu-Tschu (großartig fies und liebevoll besetzt in der Sprechrolle: Stefan Kurt) nach seinem korrupten Urteil hinter einer Glasscheibe auf die Exekutionsbare geschnallt wurde. Hier triumphiert also die Schurkin des Stücks, Yü-Pei, die skrupellose Erstfrau des Mandarin Mr. Ma. Die eine singt die inzwischen ins Charakterfach gewechselte Nicola Beller Cabone mit gustiöser Schärfe als Opern-Cruella de Vil, die sich um Stellung und Auskommen gebracht sieht und Haitang fälschlich anklagt. Den anderen verkörpert der sich vom fiesen Sugar Daddy zum liebenden Ehemann wandelnde, darstellerisch ungemein präsente Martin Winkler.
Wie überhaupt hier sehr klug und fein besetzt wurde. Die alten Mezzo-Bekannten Doris Lamprecht und Hedwig Fassbender sind herrlich anzusehen als verzweifelte Mutter und bestochene Hebamme. Stephan Rügamer ist ein zart ternorverknitterter Prinz Pao, Lauri Vasar barmt baritonal als Haitangs anarchistisch über die Stränge schlagender Bruder. Zachary Altman gibt einen verschmitzten Bordellbesitzer und Paul Kaufmann den sinistren Geliebten der Erstfrau. Sie alle werden aber überstrahlt durch die schlichte, zarte Intensität, der ihr Sopranglühen bündelnden Ilse Eerens als Haitang, die sich demutsvoll zur Konkubine machen lässt und ihren Mann, der das Unglück der Familie verschuldete, in einen treuen Ehegatten wandelt. Bis die fiese Erstfrau ihn vergiftet.
Brunel erzählt das schnell wechselnde Geschehen anekdotenhaft flüssig in einem nüchtern modernen Bühnenbild von Anouk dell’Aiera, die lauter multifunktional-wandlungsfähige Zimmersegmente zu immer neuen, überraschungsvollen Räumen kombiniert. Benjamin Moreaus Kostüme schwanken zwischen China-Klischee und Zeitgeist, leuchten momenteweise auch farbenprächtig wie die Chinaoper-Roben der sich prostituierenden Schönheitstänzerinnen auf ihrem Karaoke-Podium. So wird diese stimmige, packende Aufführung in Lyon einmal mehr zu einem heftig beklatschten Premierenerfolg – und man wundert sich, warum man diesem lohnenden, sehr heutigen Stück eigentlich so selten begegnet.
„Die Gezeichneten“, hingegen waren 1918 der viel gespielte, aber schon vor 1933 ebenso schnell verpuffte Sensationserfolg Franz Schrekers, an den er nicht mehr anknüpfen konnte. Uraufgeführt wurden sie in Frankfurt, wo sich auch 1979 die zwischen Faschismus und Frankenstein oszillierende Wiederentdeckung durch Hans Neuenfels und Michael Gielen ereignete. Dieser opulente, auch an der Komischen Oper nicht ungekürzt gegebene Dreiakter ist ein morbider Psycho-Thriller in der Maske der Renaissance, der plausibel Wilhelm Heinses Inselorgien des „Ardinghello“ mit Oscar Wildes (von Zemlinsky vertontem) „Zwerg“, Nietzsche, Schnitzler, Weininger, Freud und einer Portion Makart verschneidet. Das ergibt Wiener Fin-de-Siècle-Klangopulenz, unfassliches Tonalitätsgewimmel, gespreizte Reizharmonik, montiertes Raffinement: Strauss nicht unähnlich. Doch wo der dröhnt, stöhnt Schreker sinnlich.
Sinnlichkeit behauptet diese bitonal schwankende Musik freilich nur als sirrender Dauerorgasmus. Wie zweitklassig diese Raffiniertheit gekonnt vortäuschende Partitur sich durch den Superklimax stöhnt, das merkt man eigentlich erst, wenn sie so erstklassig serviert wird wie von Stefan Soltesz und dem wieder einmal über sich selbst hinauswachsenden Orchester der Komischen Oper: Wahn und Wonne werden sorgfältig aufgefächert, konzentriert gesteigert, nie überhitzt entfacht. Kitsch und Avantgarde rauschen in diesen filmmusikalischen Klängen vom ersten Glissando an verführerisch auf, es glitzert pointilistisch farbensatt, glüht lustvoll präzise. Soltesz taucht souverän ein in diese lockende Tonmalerei mit ihrem süffigen Streichersound und exquisiten Bläserharmonien. Er wirkt als souveräner Klangregisseur, gibt dieser wuchernden Musik Klarheit und Stärke, vermeidet jegliche Klebrigkeit nur säuselnde Süße. Bitterkeit schwingt hier stets mit, Melancholie, durchaus auch eine morbide Schwäche. So wirkt fast duftig kostbar, wo bisweilen nur Kunsthonig sich zäh fließend breit macht.
Auch deshalb, weil es so wenig zu sehen gibt. Der einstig blutige Wilde Calixto Bieito erzählt mit einem zahmen Thesentheater zwei klinisch kühle Akte lang nur semikonzertant von der Schönheit im Hässlichen und dem Hässlichen im Schönen. Wo Schreker im eigenen Libretto den neuen, durch die Weltkriegsstahlgewitter geformten Menschen auf die Psycho-Couch legt, sein Genua des 16. Jahrhunderts nur die deformierte Fratze seiner Zeit maskiert, wird auf Rebekka Ringsts aufgeräumter Design-Vorbühne lediglich ein weißer Rahmen von weißen Gipsplatten abgeschlossen. Beste Projektionsmöglichkeit für Sarah Derendingers Videos von Kindergesichtern, die sich mit Erwachsenenantlitzen überlagern. Diese sich nun hübsch an der Rampe aufreihende Männergesellschaft schmieriger, von Ingo Krügler in die üblich austauschbar zeitgenössischen Kostüme gekleideten Alphatierchen, das sind alles Päderasten, so will es Bieito. Sie gehen ihrem Laster auf einer Insel namens Elysium nach, hier symbolisiert durch ein weiteres Video vom Riesenrad im Plänterwald. Und über dieser Missbrauchsthema reicht das inhaltlich weit vielschichtigere Stück hier nie hinaus.
Alviano Salvago, den Peter Hoare etwas eindimensional und tenorgrell singt, ist der zum Narziss gewordene bucklige Außenseiter, der sich die Anerkennung dieser Gesellschaft mit dem Geschenk des Vergnügungseilands erkauft hat, will diese nun dem Volk schenken, weil die Höflinge dort vergewaltigen und morden. Akviano hat keinen Buckel, er liebt nur Kinder, scheinbar harmlos, sie umgeben ihn als dichte Traube mit Luftballons und bunten Hütchen, während seltsame Pimpf-Buben von den übrigen geilen Kerlen begafft werden. Bewegungslos. Ein Kunstarrangement.
Auch die Malerin Carlotta, die von Selbstzweifeln benagt, in dem Sonderling Alviano den Thrill sucht, glaubt, wie er eine „Gezeichnete“ zu sein, in ihrer Sensibilität außerhalb der grausam reglementierten Gesellschaft zu stehen. Sie kommt zunächst als Kerl daher und wechselt immer wieder androgyn die Identitäten. Der Krüppel und die Artistin, die Angst haben vor Berührung und doch nur danach gieren, beide wollen sie das vollkommene Kunstwerk – das Leben. Was schrecklich scheitert. Ausrine Stundyte gibt die Carlotta als trickreiche Kunstdomina und fügt der Galerie ihrer schillernden Charakterporträts eine interessante Facette hinzu. Vokal erweist sie sich allerdings als in der Höhe angeknackst und von schriller Vehemenz.
Als Figur fasziniert einzig der bisweilen kaum von Alviano unterscheidbare Tamare als Gegenspieler und Rivale Alvianos. Der wunderbar geschmeidige Michael Nagy wuchtet ihn nicht in brutaler Herrenmenschmanier auf die Bühne, gibt ihm mit biegsam fülligem, schön durchgebildetem Bariton ungeahnte Kultur und Delikatesse. Tamare nimmt sich trotzdem was er will. Und wird am Ende, das steht so nicht im Libretto, von Carlotta ermordet. Die hat sich vorher schon mit dem Messer als Pinselersatz durch eine der Platten gebohrt und Alvianos Porträt als Profil herausgeschnitten.
Dahinter zeigen sich erst Gitter, die sich dann im dritten Akt als Höhle und Hölle verbotener Lüste, zum Elysium als LED-leuchtendes Neverland zwischen Peter Pan und Michael Jackson öffnen. Da tuckert ein Dampfbähnchen mit immer mehr leblosen Kindern im Kreis, monströse Kuscheltiere und Roboter hängen herum, auch Carlotta liebkost vor allem ein grünes Bärchen. Wo Utopie zur Katastrophe des Machtmissbrauchs wird, finden Carlotta und Tamare den Tod; der Zwerg Alviano steht als doppelt Geächteter da. Sein Motto, „Die Schönheit sei Beute der Starken“, hat sich gegen ihn gekehrt. Bei Bieito bleibt allerdings das künstliche Paradies ein solches, eine minimalistische Theaterkulisse, in die das wirkliche, auch grausame Leben nie eindringt, Adriano am Ende mit einer Kinderpuppe dasitzt. Der Wechsel vom sorgsam zum Höhepunkt geleiteten Sinnengenuss zur brutalen Desillusion, er findet hier nicht statt, und so verpuffen diese „Gezeichneten“ im Ungefähren eines unlustig leerlaufenden Regietheaters. Immerhin bleibt so ausführlich Gelegenheit, der Musik zu lauschen.
In Lyon gab es vor zwei Jahren übrigens als französische Erstaufführung ebenfalls „Die Gezeichneten“, David Bösch inszenierte sie im kühlen Paradies eines Inselelysiums als großbürgerlicher Lasterhöhle. Und in wiederum zwei Jahren plant Intendant Serge Dorny, der hoffentlich bis dahin an die Bayerische Staatsoper gewechselt ist, eine weitere Schreker-Erstaufführung, wieder mit Bösch: „Irrelohe“.
Der Beitrag Opernträume der „entarteten“ Avantgarde: Zemlinsky und Schreker in Lyon und Berlin erschien zuerst auf Brugs Klassiker.