Mozart: Die Entführung aus dem Serail (harmonia mundi) Grandioser Abschluss eines 17-jährigen Opernliebesaktes im Studio. Das Sing- als Hörspiel, spannend, anrührend, musikalisch frisch und zupackend. René Jacobs hält als inzwischen generöser Master Mind alle klanglichen Fäden zusammen, aber die Vokalbesetzung, allen voran Dimity Ivashchenko als überraschend vielschichtiger Osmin, emanzipiert sich und macht sich gekonnt Mozart-locker. Orientalisch harmlos und verkappt rassistisch, das war gestern. Diese Stück, dem jede Exotismus-Gefälligkeit ausgetrieben ist, hat etwas zu sagen über Toleranz und Milde – gerade heute.
Bach, Beethoven, Rzewski: Variationswerke (Sony Classical) Wenn der Deutsch-Russe Igor Levit nicht mindestens zweimal am Tag per Twitter die Welt verbessern will, dann spielt er ziemlich gut Klavier. Und ein ordentliches Ego hat er auch. Das beweist dieses so kühne, wie kluge, die Jahrhunderte nonchalant überbrückende CD-Trio mit großen Variationszyklen. Nach den nur scheinbar abgeklärt ruhigen, im Mikrobereich durchaus brodelnd lebendigen Goldberg-Variationen folgen die Diabelli-Variationen – nicht als klassische, sondern klassizistisch mit leichten Manierismen versehene Weiterführung eines bewährten Notengeschäftsmodells, dass sich gut mit neuen Inhalten füllen lässt. Wenn man es kann; was über ein eineinhalb Jahrhunderte später auch für den politischen, eklektisch verspielen, gemein schweren, bis zum Pianistenschrei sich steigernden Zyklus des Amerikaners Frederic Rzewski über das chilenische Protestlied „The People United Will Never Be Defeated“ gelten muss.
Verdi: Aida (Warner Classics) Lange hat keine der großen Firmen mehr eine so stimmige Studioproduktion einer Repertoire-Oper vorgelegt. Der Kanon ist akustisch wie interpretatorisch eben doch noch nicht ausgereizt. Das beweist Anja Harteros so zart-zerbrechlich wie zielstrebig-zäh in der Titelpartie, mit intelligent vokalem Farbenspiel und Nuancenreichtum. Jonas Kaufmann gibt den Feldherren Radames als Sensibilissimus, aber mit starker, dunkel glühender Stimme. Ekaterina Semenchuk ist eine pastos orgelnde, dabei biegsame Amneris, Ludovic Tezier ein autoritärer Amonasro. Wunderbar idiomatisch, aber auch mit feinfühligem Pointilismus musizieren Chor und Orchester dell’Accademia Nazionale di Santa Cecilia diesen impressionistisch-intimen Verdi. Und Antonio Pappano erweist sich einmal mehr als Opernwundertier mit Taktstock.
Anthony de Mare: Liaisons – Re-Imagining Sondheim from the Piano (ECM) Gäbe es diesen nicht nur geographisch großen Graben zwischen Europa und Amerika, Stephen Sondheim müsste schon längst im Olymp zeitgenössischer Komponisten angekommen sein. Denn was der Broadway immer noch Musical nennt, wurde unter seinen magischen Händen so experimentelles wie gültiges Musiktheater. Wobei ihm als sowieso schon rares Exemplar eines Verfassers von Worten wie Noten auch immer wieder die seltenen Erfindungsgabe einer unwiderstehlichen Melodie gegeben war. Auf drei CDs (und ungewöhnlicherweise beim sonst eher anderen Musikstilen vorbehaltenen Label ECM) zollen nun auf Anregung des Pianisten Anthony de Mare 36 Kollegen mit hübschen, verrätselten, sehr freien wie sehr engen Klaviervariationen und –bearbeitungen der größten Sondheim-Hits ihren Tribut. Mit dabei sind u.a. William Bolcom, Nico Muhly, Steve Reich, Wynton Marsalis, Fred Hersch, Jake Heggie, Frederic Rzewski, Mark-Anthony Turnage, Tania Leon und Michael Daugherty. Genau das Richtige für einen wunderbaren Sonntag im Klangpark mit Stephen.
Valer Sabadus: Caldara (Sony Classcial) Der erst 29-jährige Rumäniendeutsche, der in Bayern großgeworden ist, gilt gegenwärtig als einer der besten Countertenöre. Weil seine Stimme so sinnlich und hell tönt, aber auch so makellos weich geführt wird. Unangestrengt und gar nicht künstlich klingt sie. Gerade erobert er Wien – nicht nur als Monterverdi-Cäsar kürzlich auf der Opernbühne, sondern ebenfalls auf seiner aktuellen CD als sensibler Interpret von völlig vergessenen, aber wunderschönen Arien mit obligaten Soloinstrumenten des habsburgischen Vizehofkomponisten Antonio Caldara (1670-1736). Mit den Barock-Spezialisten des Ensembles nuovo aspetto unter Michel Dücker, der diesen Notenschatz gehoben hat, gelingt so eine Entdeckungsreise in eine versunkene Epoche; sieben Ersteinspielungen inklusive.
Sergey und Lusine Khachatryan: My Armenia (naive) Kennen Sie Komitas Vardapet, Eduard Bagdasaryan, Edvard Mirzoyan oder Arno Babadjanian? Müssen Sie nicht, klingeln wird es höchstens bei Aram Khachaturian. Denn sie sind alle sind, wie nicht nur der Letzte, Berühmteste, armenische Komponisten. Ihnen und ihrer Musik, damit aber auch ihrem Heimatland haben nun die beiden natürlich armenischen Geschwister Sergey und Lusine Khachatryan eine Klavier-Geige-Auswahl gewidmet, Und die beweist, in dieser Region und bei diesem Volk, das vor hundert Jahren von einem bis heute noch nicht von den Türken entschuldigten, gar vollständig zugegebenen Genozid heimgesucht wurde, gibt es eine so tiefe wie wertvolle Musiktradition. Die wir natürlich eurozentrisch ignoriert haben, lässt man einmal die bewusst populistischen, sich schnell in die Gehörgänge einträufelnden, auf sowjetischem Folklorekompositionsbefehl beruhenden Tänze aus dem Khachatuian-Ballett „Gayaneh“ beiseite. Zu hören sind melancholische, von jahrhundertealten Melodien und tiefer Frömmigkeit inspirierte Kleinode aus einer hierzulande kaum bekannten Kultur, wunderbar inspiriert und klangfein gespielt.
Händel: Partenope (Erato) Diese Oper, benannt nach einer toten Sirene, die an einem süditalienischen Gestade angeschwemmt diesen seinen griechischen Namen gab – aus dem später Neapel wurde –, sie bezeichnet gleichzeitig eine sagenumwobene Königin, die zur Titelfigur einer der reifen, unbekannteren, aber unbedingt hörenswerten Händel-Opern gehört. Weil sie witzig und anrührend ist, Göttliches und Allzu-Menschliches mischt, Tragik und Komik, Heroisches und Erotik in einem so witzigen wie wahren Libretto. Dem Sachsen in London gelang so 1730 eine seiner schönsten, reichsten und wahrhaftesten Partituren. Die es immer noch zu entdecken gilt. Beispielsweise in dieser wirklich ideal ausgewogenen Neuaufnahme. Das noch junge Ensemble Il Pomo d’Oro unter Riccardo Minasis zupackend-zartfühlender Leitung erweist sich so einmal mehr als eines der gegenwärtig besten Opernorchester für Barockmusik. Die Kanadierin Karina Gauvin ist eine so sinnliche wie sachkundige Interpretin der schillernden Titelpartie. Philippe Jaroussky hat die Weichheit, aber auch die schönen Legatolinien für ihren gefühlvollen-zwielichtigen Liebhaber Arace; was sich in seinen acht Arien auf das Schönste entfaltet. Die klangsatte Ungarin Emöke Barath und John Mark Ainsley ergänzen das fatale Liebesquartett.
Daniil Trifonov: Rachmaninow-Variationen (Deutsche Grammophon) Noch einmal Klaviervariationen, diesmal als prototypisch russischer Salonweltschmerz in Ephebengestalt. Von einer verzehrenden Intensität, gepaart mit einem unglaublich sinnlich-knisternden Gefühl für die aussterbende Kunst des Agogischen, des Festhaltens, Hinauszögerns, des Verweile doch, Tonaugenblick, du bist so schön! Der erst 24-jährige Russe entlockt dabei immer wieder den banalsten harmonischen Wendungen rhythmische Freiheiten, die sein Spiel so lebendig und aufregend machen. Man muss einfach seine ersten Studioalbum zuhören, wie im Sog, klebt auch akustisch an diesen Fingern fest. Es ist Sergej Rachmaninow gewidmet. Von dem spätzeitlich eklektischen Russen gibt es die Solowerke der Chopin- und Corelli-Variationen sowie die populären, im gleichen Geiste orchestral von Yannick Nézet-Séguin und dem Philadelphia Orchestra geschmacksicher aufgeschäumten Paganini-Variationen. Zudem lernen wir den Komponisten Trifonov mit „Rachmaniana“ kennen; einem Stück hübscher pianistischer Verkleidung und Anverwandlung.
Artemis Quartett: Brahms-Quartette Nr. 1und 3. (Erato) Ein weitere beachtlicher Repertoire-Baustein in der wundervoll wachsenden Diskographie des besten deutschen Quartetts – und plötzlich auch eine Erinnerungs-CD, so tröstlich wie traurig. Die letzte, die die Artemis-Vier mit ihrem bedeutenden Bratscher Friedemann Weigle zu Ende brachten, der sich im Sommer das Leben genommen hat. Der versierte Kammermusiker ließ ab 2007 ein wenig Machoallüre in das großartige, inzwischen in Berlin naturalisierte Klangkleeblatt einfließen; einen virilen, nach Moschus duftenden Biss, aber er konnte auch ganz weich und fein spielen. Man hört das hier, wenn sich die beiden Geigenstimmen immer wieder einzeln mit der prägnanten Bratsche intrikat verschlingen, gemeinsame Duette und Terzette singen. Natalia Prishepenko, die Primgeigerin, die 2012 ausschied, forderte mit ihrem kräftigen, bisweilen harschen Bogenstrich oft Widerstand, Gegenrede heraus. Die viel weiblichere Vineta Sareika, die dem Artemis Quartett seither opake Glanzlichter aufsetzt, entwickelt mit ihren drei Männern ein biegsameres, nuancenfeineres Spiel. So werden die extremen emotionalen Brahms-Seiten mit Leidenschaft, Brillanz und luzidem Sinn für die motivische Architektur ausgelotet.
Alexander Melnikov, Pablo Heras-Casado: Schumann-Klavierkonzert und Klaviertrio Nr. 2 (harmonia mundi) Ein dreiteiliges Schumann-Fest hat seine Mitte erreicht. Nach der bezwingenden Violinkonzert-Einspielung durch Isabelle Faust folgt nun – wiederum mit dem Freiburger Barockorchester unter dem befeuernden Pablo Heras-Casado, das ungleich beliebtere Klavierkonzert. Dem freilich der manuell tadelfreie, immer wieder überraschende Alexander Melnikov weitere spannungsvolle Aspekte zu entlocken vermag. Hier spielt kein eitler Superstar, hier stellt sich einer in den Dienst des Werkes, wird zum Medium. Er musiziert auf einem so prächtigen wie eigenwillig tönenden, original Érard-Hammerflügel aus dem Jahr 1837. Das Instrument ist also nur acht Jahre älter als das Konzert. Mit seinem silbrig leisen Klang und dem Klappern der Tasten erlaubt es eine ganz neue Balance von Solist und Orchester, die sich auf den intellektuellen Dialog kapriziert; das auftrumpfend Virtuose, auch Weich-Sentimentale, das diesem Konzert im Lauf der Aufführungsgeschichte immer mehr zugewachsen ist, gerät so in den Hintergrund. Es wird ein Monument des gemeinsamen Musizierens. Und wieder gekoppelt mit einem Klaviertrio im bewährten Dreier mit Faust und dem Cellisten Jean-Guhien Queyras.
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