Dreimal hat er es schon in Wien getan, einmal in Amsterdam. Das Regieleben des Claus Guth besteht häufig aus Wiederholungen, auch in seinem Stil. Nun folgte also im Theater an der Wien die fünfte szenische Umsetzung eines Oratoriums seinerseits. Die Wahl war auf Händels „Saul“ gefallen, musikalisch reichhaltig, fast opernhaft den Nachfolgekonflikt mit David, das Aufeinandertreffen des Fremden mit dessen Töchtern Merab und Michal sowie mit dem schnell in den jungen Aufsteiger verliebten Jonathan erzählend. Anthony Pilavachi an der Komischen Oper Berlin, Christof Loy an der Bayerischen Staatsoper und Barrie Kosky beim Glyndebourne Festival haben das schon gültig zu inszenieren gewusst. Den Umschwung von der alten zur neuen Ordnung im frühbiblischen Palästina begleitet freilich eine weitere Hauptperson, aktiv wie kommentierend – der Chor. Und die an diesem Haus fast schon obligatorische Mitwirkung des fabulösen Arnold Schoenberg Chor legitimierte allein schon die Werkwahl. So gut, so präzise und doch so entspannt, so präsent, so feinmechanisch klanglich ausbalanciert – eine wahre Händel-Freude.
Bei seinem Amsterdamer „Jephta“, bisher sein oratorisch-imaginatives Meisterstück, hatte Claus Guth eine andere Ausstatterin; diesmal ist es wieder der bewährte Christian Schmidt. Und damit befinden wir uns in dessen ästhetisch bekannter Welt aus Drehbühne, bürgerlichem Salon, zeitlos alltäglichen Kleidungen und simplen Schwarzweiß-Kontrasten. Farbe ins tönende Bibelspiel bringen lediglich das Rot der dünkelhaften Merab (hervorragender Ersatz für die kranke Anna Prohaska: Carolina Lippo) und Grün für die empathischere Michal (lodernder Ernst: Giulia Semenzato). In die scheinbar harmonische Familienaufstellung am holzgedrechselten Esstisch bricht, ähnlich wie in Pasolinis „Teorema“, was Guth erklärt hat, Jonathan wie ein weißer Engel von außen herein; auch wenn er zunächst einmal das blutige Haupt des Goliath auf einer Silberschüssel platziert.
Nur einer gerät darüber, obwohl er ihn zunächst freudig begrüßt, immer mehr außer sich: Saul, den die Gunst Gottes verlassen hat und der seine Macht schwinden sieht. Er muss abtreten, ein neuer Führer der Juden ist da. David (der farbenfreudige Countertenor Jake Arditti) wird von zunächst schmeichelndem Harfenklang begleitet, das ihn zeigende, sich immer mehr vergrößernde Rembrandt-Gemälde vor der roten Streifentapete unterstreicht seinen Anspruch. Am Ende ist er der aktuelle, freilich regietheater-klischeehaft zweifelnde Heilsbringer, dem sich nazarehnerhaft ekstatisch alle Hände zuwenden – auch wenn Sauls längst in Trauerschwarz gekleideten Töchter als einzige Überbleibsel der alten Ordnung weichen müssen.
Davor aber sind die Männer des alten Regimes, Saul und sein potenzieller Nachfolger, der weiche Jonathan, zu dem der Vater nie ein Verhältnis entwickelt, herumgeirrt im Labyrinth der Drehscheibe: in einem weiten Raum mit ansteigendem Erdboden, einer schmucklos schwarzen Begrenzung und einer weiß gekachelten Waschküche, wo sich wunderbar die Namen des ehemaligen und den zukünftigen Königs menetekelhaft an die Wand schreiben lassen. Claus Guth arbeitet gewohnt zeichenhaft, auch wenn er den Speer den der immer mehr außer sich geratende Saul wütend auf David schleudert, von einem Tänzer als bösem Geist in Zeitlupe auf seine Flugbahn bringen lässt.
Andrew Staples gibt dem zurückgewiesenen Jonathan enttäuscht-verletzlichen Druck, sein weißlicher Tenor hat aber nicht viele Schattierungen; da wirkt selbst der luxuriös überbesetzte Marcel Beekmann in diversen arienlose Episodenrollen nachhaltiger. Immerhin eine Arie als Böses prophezeiende Hexe von Endor hat Händel dem vokal zwitterhaft schillernden Counter Ray Chenez zugestanden, der vorher als schnippisches Serviermädchen an der königlichen Tafel präsent war.
Der beglückende Händel-Abend gehört aber sängerisch wieder einmal Florian Boesch, der mit knarzig-knorrigem Bariton den Saul in jedem Moment seines trotzigen Aufbegehrens, seines nicht Wissen- und nicht Verstehen-Wollens mit darstellerischem wie vokalem Leben erfüllt. Diese Stimme ist nie der pure Wohlklang, aber sie berührt durch ihre Ausdrucksstärke und Unbedingtheit, so wie Boesch als ausstrahlungssatter, düsterer, sehr moderner Spieler. Dieser Saul ist der Prototyp eines Potentaten durchaus auch unserer unübersichtlichen Zeit, der sich an die Macht klammert und nicht merkt, dass seine Ära vorbei ist. Mit dem Sohn wird er in der Schlacht fallen.
Ganz egal, ob sie alte Regime musikalisch unterstützen oder die posaunenstrahlenden Hymnen auf das neue spielen, von Leid und Freude, Verzagtheit oder Liebe künden, eine Wonne sind wieder die herrlich abgemischten, sogar orgelverstärkten Musiker des Freiburger Barockorchesters, das gleichzeitig bei harmonia mundi eine neue, feine Händel-CD mit dessen aus dem Oratorienmusikmaterial hervorgegangenen drei Concerti a due cori veröffentlich hat. Laurence Cummings bettet die flexiblen Instrumentalisten in federnde Rhythmik ohne ihre agogischen Freiheiten zu beschneiden. Schön atmen sie im hochgefahrenen Graben mit, weich ist ihre stufenlos regelbare Dynamik. Ein Händel für intelligent geschärfte Ohren, aber auch zum Genießen. „Saul“ mit Soul und Seele.
Der Beitrag Saul mit Soul und Seele: Claus Guth triumphiert in Wien neuerlich mit einem Händel-Oratorium erschien zuerst auf Brugs Klassiker.