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Channel: Manuel Brug – Brugs Klassiker
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Alles über Andris: In Leipzig startet der 21. Gewandhauskapellmeister

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Groß und mächtig, schicksalsprächtig. Nein, hier ist nicht vom Watzmann die Rede. Der Berg, der kommt, das ist – zunächst in Gestalt des sanft im Leipziger Bahnhofswesthallenwind den Anreisenden begrüßenden Riesenplakats – Andris Nelsons, der endlich als 21. Gewandhauskapellmeister im 275. Orchesterjahr durchstartet. Vor zweieinhalb Jahren wurde der Vertrag unterzeichnet, komplizierte Verhandlungen mit seinem anderen Klangkörper, dem inzwischen freundschaftlich ins gemeinsame Chefdirigentenboot geholten Boston Symphony Orchestra, waren nötig, dass es jetzt an der Pleiße losgeht. Zunächst mit vier Wochen und fünf Programmen samt dem echten Geburtstagskonzert am 11. März, dann mit einer Europatournee im April. Alles über Andris also, auch wenn der gemeine Sachse, die Vorkommnisse im Betonklotz am Augustusplatz meistenteils nur geneigt zur Kenntnis nehmen wird. Immerhin, entlang der Gleisende an Europas einst größtem Kopfbahnhof hat man das Nelsons-Konterfei auch in rotierende Werbeflächen hängen lassen. Dort teilt man sich die Buchung passenderweise mit einer Dating—Plattform. Und das Antrittskonzert präsentiert eine Anwaltskanzlei – nicht auf Scheidungsfälle spezialisiert, wie schnell versichert wird.

Trotzdem macht solches Sinn, schließlich geht es ja auch hier nach einer langen Verlobungszeit um eine Heirat, wenn auch mit zwei Bräuten, gefolgt von hoffentlich harmonischer Ehe. Die eine Gattin, in Massachusetts, ist schon happy, die andere freut sich zumindest ungemein. Vom Gewandhausdirektor Andreas Schulz bis zu offenbar jedem einzelnen Musiker, die mit zum Teil sehr schönen Aussagen zu zitieren sind. So gibt Tobias Haupt, Geiger und Orchestervorstands, zu Protokoll: „Andris Nelsons hat die erstaunliche Gabe, eine Komposition immer wieder im Moment des Konzertes neu entstehen zu lassen. Damit zeigt er nicht nur, dass die Pflege der Musik aller Epochen für uns eine essentielle Bedeutung hat und welche positive Energie sie freisetzen kann, sondern er bezieht uns, die

Foto: Marco Borggreve

Musiker und Zuhörer, direkt in diesen Prozess mit ein.“ Und die Englischhornistin Gundel Jannemann-Fischer schwärmt: „Das Besondere an der Arbeit mit Andris Nelsons ist für mich der unbedingte Wunsch, die Musik emotional zu führen. Diese Emotionalität ist so unmittelbar und authentisch, dass es schwer ist, sich diesem Sog zu entziehen.“ Der Worte mögen Taten folgen. Von Vertrauen, Offenheit und Emotion ist viel in diesen Leipziger Tagen die Rede. Anderseits brodelt im Musikbetrieb auch schon wieder die Gerüchteküche. Denn Andris Nelsons, der bis zum Saisonende immer noch fast 50 Konzertauftritten zu absolvieren hat, dirigiert zudem noch fünf Opernvorstellungen, die es in sich haben. Ab 7. Juni leitet er am Royal Opera House Covent Garden in London, wo man  wohlmöglich bald einen Nachfolger für den verehrten Musikchef Antonio Pappano suchen muss, Wagners „Lohengrin“. Mit seiner Frau Kristine Opolais als Elsa.

Die einen Gerüchte reden nun von angeblichen Eheproblemen (wo ist der Ehering, wo ist die Opolais in Leipzig?), auch weil die so sympathisch erfolgreiche, theatralisch begabte Sopranistin in den letzten Monaten viele schlechte Kritiken bekam, die New Yorker Met, sie erst aufgebaut hat, dann als „Tosca“-fallen ließ und nächste Saison nur mit einer mittelgroßen Puccini-Partie abspeist. Oder ist er gar schon geschieden? Andere Branchenpythias wollen wissen, Nelsons würde sich für den ab 2020 möglicherweise vakanten Musikchefposten an dem Londoner Opernhaus interessieren. Was bedeuten würde, er müsste ein Orchester aufgeben, Boston oder Leipzig…., ja, echt!

Jetzt aber ist er erst einmal da. So richtig. In Leipzig, einen Festakt gibt es anderntags, wird seine erstes offizielles Konzert herzlich, aber auch vergleichsweise sachlich begangen. Draußen am Gewandhaus, gegenüber blinkert immer noch ein Weihnachtsmarkt mit Riesenrad und Eislaubbahn, da klebt lediglich „Andris Nelsons: 21 Gewandhauskapellmeister“ in kleinen Plastikbuchstaben an einer der Fensterflächen; wegen des Gemäldegewusels dahinter im Foyer kaum zu erkennen. Die Kleidung der Menschen im vollen Saal ist mehrheitlich alltagstauglich, die Orgel mit dem Seneca-Motto des Orchesters „Res severa verum gaudium – Wahre Freude ist eine ernste Sache“ leuchtet grellrot. Denn das MDR-Fernsehen überträgt live, heute ist das Konzert auch auf Arte und Mezzo-TV zu sehen und auf 37 Radiostationen zu hören. Nelsons kommt. Entspannt, freundlicher Applaus. Er verharrt einen Moment, die Linke am Podestgestänge, dann legt er los, konzentriert, umsichtig, hochprofessionell. Er hat seine Musiker traumhaft im Griff, diese Verbindung klickt. Deshalb ist seine Zeichengebung reduziert und klar.

Das Programm. Dabei gilt es, der örtlichen, großen, aber nicht übermächtigen Tradition Referenz zu erweisen. Herbert Blomstedt hat hier 1998 mit Bach und Mendelssohn an der Orgel sowie Bruckners 3. Sinfonie begonnen, Riccardo Chailly 2005 mit einer Rihm-Uraufführung und gleich dreimal Mendelssohn, darunter die „Lobgesang“-Sinfonie. Und Andris Nelsons lässt zunächst einmal den die vorigen Festkonzerte unbeschäftigt im Publikum gesessen habenden Leipziger Komponisten Steffen Schleiermacher zu Wort bzw. Klang kommen. Das Auftragswerk „Relief“ für eine konventionelle Besetzung plus Saxophon malt ein paar schrundig plastische Schnörkel zackend und zuckend über Liegeflächen. Der konventionell störrische Tonflächenteppich dünnt sich zuhörens aus, wird sanftmütiger, sinkt hinab, verdämmert. 15 Minuten, die keinem weh tun. Dann tritt wieder der seltsame behütete Mann in Weiß aus dem Publikum an Podium, der hier stets bei besonderen Anlässen Blümchen und Kerzen überreicht.

Es geht weiter mit Alban Berg, das bewusst gewählte Violinkonzert mit den Bach-Choralzitaten, gespielt von der Lettin Baiba Skride. Sie war schon bei Nelsons’ Amtsantritt in Boston dabei, er nennt sie seine Muse, sein Maskottchen, in jedem Fall ist sie eine Kontinuität wie Solidität verströmende Selenfreundin. In blaufließendem Tüll mit Glitzerapplikationen interpretiert sie das „dem Andenken eines Engels“ gewidmete Requiem für Manon Gropius innerlich, lyrisch zart. Der Kärntner Ländler mischt sich fein mit den Zwölftonreihen, Nelsons verbindet das zu einem harmonisch leuchtenden Ganzen, eher die Klassizität des Werkes betonend. Transparent und synchron folgt das Orchester, die Solistin schön einbettend in seine Aura, aus der sie sanft hervorstrahlt. Wunderschön klingt der himmelaufsteigend dahingehauchte Schluss, Nelsons hält mit dramatisch ebendorthin gespreizter Linker die Stille im Saal aufrecht. Skride spielt eine Pärt-Zugabe.

Dann Mendelssohn, natürlich, Tribute an den 5. Gewandhauskapellmeister sind hier unumgänglich. Diesmal sollte es die 3. Sinfonie, die „Schottische“ sein. Andris Nelsons entfaltet gemäldegleich ein Klangfarbenpanorama der besonderen, durchaus realistisch genommen Art. Und dieses so elegante, wie flexible, bestens balancierte Orchester, mit sich und seinem Chef offenbar sehr im Tonreinen, folgt bereitwillig malend mit dem feinen wie dem breiten Pinsel. Gemeinsam durchmisst man wie auf einer Reise Höhen und Täler, dynamische Aufschwünge, Tempoveränderungen. Es eilt nicht, man genießt. Freude am gemeinsamen Musizieren teilt sich unmittelbar mit. Andris Nelsons gestaltet das gleichzeitig naiv und raffiniert, professionell und neugierig.

Vielleicht ist solches das Geheimnis seiner Attraktivität. Da will keiner besonders schlau sein, es nicht besser und anders machen wollen, nur musizieren. Auf höchstem Niveau. Nicht so sehr im Barock und in der Klassik, aber in der Romantik bis zweiten Moderne. Und er will auch klanglich in die Zukunft schauen, sich von heutigen Tendenzen nicht abwenden. So ist dieser Maestro, der gar keiner sein möchte, nahbar wirkt, altmodisch und modern zugleich, mehrheitsfähig, aber auch für den Kenner interessant. Da ist einer auf dem Weg zum neuen, perfekten Mainstreamdirigenten. Recht so! Da muss keiner hysterisch werden, der gefällt einfach. Großer, dankbarer, nicht allzu langer Applaus. Der neue Gewandhauskapellmeister versteckt sich schalkhaft hinter seinen Blumenstäußen.

Wie sagt doch die die eine sächsische Altabonnentin zur anderen: Nu haben wir den Andris also eingeführt!

Der Beitrag Alles über Andris: In Leipzig startet der 21. Gewandhauskapellmeister erschien zuerst auf Brugs Klassiker.


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