Ganz ehrlich: Wer kennt heute noch Nikolaus Lenau? Kaum einer. Dabei war er im Biedermeier einer der erfolgreichsten und meistgelesenen deutschen Dichter der Romantik. Diverse Komponisten vertonten seine Lyrik, sein „Faust“-Versepos war populärer als das Goethes. Liszt ließ sich davon inspirieren, so wie Richard Strauss durch den „Don Juan“. Lenau war ein 1802 in Ungarn geborener Österreicher, wohlhabend, in meist wenig aussichtsreiche Weibergeschichten verstrickt. Auch eine Tochter wurde ihm angehängt. Ein Jahr verbrachte er in seinem Utopia Amerika und kehre tief desillusioniert zurück in den schwäbischen Dichterkreis, dem er sich mit meinen melancholischen Naturversen nahe fühlte. Doch auch revolutionäre Gedanken trieben ihn um. Sechs Jahre vor seinem Tod 1850 erlebte er den von ihm so genannten „Riss“ in seinem Leben, verursacht durch einen Schlaganfall, nach dem er gepflegt, schließlich in eine Anstalt eingeliefert werden musste. Zuvor freilich schien schon sein Sinn getrübt, wohlmöglich infolge einer voranschreitenden Syphilis. Ist das also der Stoff für eine Oper? Für Heinz Holliger, 79-jähriger skurriler, auch nicht ganz alterswutfreier Doyen der Schweizer Komponisten, schon. Kein Wunder, interessierte er sich immer schon in seinem wild wuchernden Werk für die Außenseiter und Durchgeknallten, die Wahnsinnigen und Anarchisten, Hölderlin, Robert Walser, Schumann, Wölfli, Soutter, umkreiselte und zirkelte sie auch musiktheatralisch ein. 20 Jahre nach seiner bisher nur in Basel nachgespielten Walser-Oper „Schneewittchen“ kam nur ebenfalls am Opernhaus Zürich das mit dem Dichternamen wie dem Mond wortspielende „Lunea“ heraus.
Genauer gesagt handelt es sich hier um eine Fortschreibung und Ausweitung. Vor fünf Jahren hatte hier ein gleichnamiger Liedzyklus für den exzeptionellen, gern dem Grüblerischen zugneigten Bariton Christian Gerhaher Premiere. Damals hatte Holliger Textfragmente aus Lenaus letzten, verdunkelten Jahren zu 23 „Zetteln“ verdichtet. Dem folgte eine Orchesterfassung und nun, mit Hilfe des Librettisten Händl Klaus, der weitere Lenau-Worte um diese Nuklei herumverteile, die „Lenau-Szenen in 23 Lebensblättern“: eine sich nach 11einhalb Bildern spiegelnde und teilweise musikalisch wie sprachlich spiegelschriftlich rückwärtsbewegende, in biographisch-philosophischen, nicht chronologischen Schlaglichten aufblitzende „Oper“. Die freilich gleicht eher einem Monodram für Bariton mit sparsamen Solovokaleinwürfen und madrigalesken Chorpartien. Man muss jedenfalls seine philologischen Hausaufgaben gemacht haben, um das zu begreifen und inhaltlich kausal durchleuchten zu können.
Heinz Holliger selbst gibt uns hier den Holliger, nicht mehr nicht weniger. Mit großer Virtuosität, aber auch erstaunlichen, sich auf dunkel atmosphärische Farben, dräuende Traurigkeit einschränkenden Klangflächen. Seltener sind rhythmisch bewegte, oft militaristisch anklingende Abschnitte in der etwa 105 Minuten dauernden, durchaus intensiven Partitur, die zum Ende hin etwas redundant wird. Er komponiert für ein konventionelles Orchester plus Klavier, mit raffiniert ausgeweitetem Schlagwerk, in dem es auch mal rasselt, knuspelt, schmirgelt, schnarrt, und knistert. Ein hohl tönendes Cimbalom steht wohl für heimatliche Anklänge, auch Verlorenheit. Eine von Konzertmeisterin Hanna Weinmeister versatil bediente Geige erinnert daran, dass Lenau selbst ein Virtuose auf diesem Instrument war. Ein Mann vielfältiger Begabungen, die ihn spalteten.
Davon ist freilich auf der enervierend zwielichtigen, dunklen, schnell durchschauten Bühne wenig zu sehen. Andreas Homokis biedermeierlicher Bilderbogen, durch den Frank Philipp Schlössmann immer wieder samt Projektion die Seiten der „Zettel“ als Wandblende vorbeigleiten lässt, und sie so ein wenig optisch gliedert, ist nie mehr – Biedermeier, beflissen bebildernd, fad, nichts klärend, in ödem Einheitsgrau. Wie in einem verblassten Schwarzweiß-Fotoalbum folgen die Bildkompositionen als gefällig vorhersehbare Arrangements, mit Personal im immergleicher, von Frank Bruns geschneiderter, bauschig faltiger Mode, mit Schute, Schleier, Zylinder, Frack und Krinoline. Tantenhaftes Ausstattungstheater zwischen Stühlchen, Sofa, Klavier und Sarg, ohne Vision und Phantasie. Der Dichter verscheidet am Ende im Ohrensessel, statt der immer ersehnten Nachtigallen hört man im letzten Lebensblatt elektronische Krähenschreie vom Band, wie hier dynamisch vieles mit Mikroports gelenkt und etwas verkünstelt wird. „Der Mensch ist ein Strandläufer am Meer der Ewigkeit“, ist am Schluss lenauisch zu lesen.
Die Krähe, das wunderliche Tier, der Bariton, die 23 statt 24 Nummern, gewissen Allusionen an Schuberts „Wintereise“ sind nicht zu verbergen. Aber statt mit heißen Tränen gesungen wird hier mit viel trocken raschelndem Papier rezitiert. Als einen semikonzertante, massiv von Videos unterstützen Trip ins umnachtete wie blitzdurchzuckte Dichterhirn könnte man sich das vorstellen, aber diese tantige Umsetzung der wirr visionären Gedankenwelt eines vergessenen, aber spannenden Poeten darf nicht das letzte szenische Statement für „Lunea“ sein. Zumal Heinz Holliger selbst das Philharmonia Zürich mit Lust und Zucht exakt im Griff hat, nimmermüd klangfein ziseliert und aufspaltet, aber auch große, durchaus verzweiflungsschmachtende, aber auch widerständig sinnliche Tonbögen formt.
Wenig Chancen sich zu profilieren, haben neben den monochrom ihre Vokalschleifen verzierenden Basler Madrigalisten die übrigen fünf als biographische Schattenfiguren geführten Solisten. Nur Juliane Banses Sopran, vor zwei Jahrzehnten war sie Holligers Schneewittchen“, sticht scharf und streng hervor. Bleibt Christian Gerhaher, der her einen weiteren Seelengrübler sich einverleiben kann. Er tut das, in schwarzer Hose und Weste, nüchtern abgehoben vom Restpersonal, gewohnt akribisch, textüberdeutlich. Ein wunderbarer Operstudiendirektor wie einst Dietrich Fischer-Dieskau – doch weit mehr vom darstellerischen Eros geküsst. Was er freilich im ihm enge Grenzen als ewig (Ver-)Zweifelnder setzten Szenenrahmen nur massiv eingeschränkt ausleben kann. Ihn würde man gern entfesselt im leeren Bilderraum sehen, mit seinen Alpträumen und Glückideen kämpfend, ihnen nacheifernd, sich entäußernd. Komm ins Offene, Freund Lenau! In Zürich wurdest du nur ein zweites Mal eingesperrt.
Der Beitrag Strandläufer am Meer der Ewigkeit: Heinz Holligers biedermeierlich anzusehender Lenau-Bilderbogen in Zürich erschien zuerst auf Brugs Klassiker.