Wenn aus der Limousine in der Einfahrt zunächst Bonnie und Clyde springen, um dackelschwanzwedelnd ihrem Frauchen Anne-Sophie Mutter zwischen die Beine zu gehen, wenn zudem in der Lobby gerade Thomas Quasthoff eincheckt, Till Brönner nebst Bassist im Sessel wartet, Elena Bashkirova aus der Tiefgarage kommt, Alfred Brendel aus dem Aufzug tritt, Juliane Banse mit dem Intendanten plaudert, an dessen Handy gerade Alfred Biolek klingelt und auch Martha Argerich bald ankommen muss, dann dürfte klar sein, dass es kein normaler Tag für das Wuppertaler Hotel neben der herrlichen Neorenaissance-Stadthalle sein wird, die den Wissenden ja als einer der schönsten deutschen Konzertsäle gilt. Geladen hat ebenfalls ein Neorenaissance-Mensch, der hier mit vielen Künstlerfreunden und regelmäßigen Gästen den 30. Geburtstag des von ihm zu Blühen gebrachten Festival feiert – und auch noch gleich, das wissen aber nur die Eingeweihten, also alle: den eigenen, 70. Jubeltag: Franz Xaver Ohnesorg. Und allein diese zufällig zusammenschwirrende Versammlung von Künstler und Charaktere – zumal im Bergischen Land – zeigt schon, wie längst auch mit Sängern, anderen Instrumentalisten, Jazzern das Klavier-Festival Ruhr spielerisch nonchalant seine Nukleus verlassen und wie sich auch die gastgebende Region in diesen drei Jahrzehnten gewandelt hat: „Die Pianisten der Welt beflügeln Europas neue Metropole“ heißt deshalb stolz der Festspiel-Untertitel.
Die herrliche, Wuppertal zum Glück teure Halle ist ausverkauft, es vibriert erwartungsfroh. Was hier als „2. Stifterkonzert“ titelmäßig unterspielt wird, ist mit ihre Gage zugunsten des privat finanzierten, vom ebenfalls 30 Jahre alten Initiativkreis Ruhr als Leitprojekt getragenen Festivals und seines Education Projects spendenden Künstlern ein Stelldichein der prominentesten Festspiel-Leuchttürme geworden. Und die bringen die wie ein festlich erleuchtetes Märchenschloss auf dem Johannisberg, gleich neben dem Fifties-beschwingten Stadtbad („Schwimmoper“) verheißungsvoll strahlende Stadthalle zum Vibrieren und Beben. Natürlich gab es auch, wie bei jeder Gala, Ausfälle in letzter Minute, András Schiff und Matthias Goerne stehen diesmal auf Krankenliste, aber nicht nur wird die angepeilte Dauer von drei Stunden für die Darbietungen von 11 Pianisten plus einem Ex-Klavierstar, zwei Sängern und je einem Cellisten, Bassisten, Trompeter und einer Geigerin nur um zehn Minuten überschritten. Akribisch vermerkt der entspannte Moderator, auch eben 30 Jahre zählende Joseph Moog, der selbst mit Gerhard Oppitz zur Eröffnung locker-federnd Schuberts nachgelassenes Rondo zu vier Händen D608 spielt, bei jedem „Familienmitglied“ auch die Zahl seiner Auftritte samt dem diese Saison anstehenden.
Am häufigsten war Alfred Brendel mit 26 Terminen da, seit zehn Jahren nur noch als Rezitator eigener Texte, so wie mit dem aktuellen, von Schnaufen übers Headset begleiteten Kurzeinwurf. Der macht, samt gezücktem Fernrohr, nach dem verschwundenen schwarzen Kohlegold auf dem ebenso farbenen Flügelgebirge den Gipfelstürmer FXO aus, der als „Wundermann und Klavierheiliger“ den Tastenstürmern helfende Hände reicht. Dazu streicht Sohn Adrian auf dem Cello Miniaturen von Kurtág und eine Bach-Bourrée. Auf 24 Auftritte beim Klavier-Festival bringt es immerhin Klavierkönigin Martha Argerich – und auf fünf Jahrzehnte FXO-Freundschaft. Immer zarter werdend hinter dem grauen Haarvorhang möchte man 76-jährig ebensolchen Furor, Treffsicherheit, rhythmische Finesse und rarbenzauber aufbringen können, wie dieser argentinische Feuersturm im Verein mit Sergio Tiempo in Ravels apokalyptischem La Valse; der gleichwohl wirkungsbewusst die Finale zur Pause und zum Freisekt setzt.
Danach wird es amerikanischer, lockerer und leichtgeschürzter im Überraschungsprogramm, dessen gedruckte Werkfolge man erst hinterher verteilt. Die Diven Anne-Sophie Mutter (11 Konzerte seit 1995, aber vierzig Jahre mit FXO sehr gut) – in Rückenfrei-Trägerlos-Feuerrot – und Khatia Bunitiashvili – Gold, ohne Ärmel – präsentieren sich als generöses Gershwin-Duo, wenn nicht spielend engumschlungen. Vorher liefern die Kimonoumhang tragende Maki Namekawa und Dennis Russell Davies als sich hier 2002 kennen- wie lieben gelernt habendes Tastenduo (sie sind sicher die einzigen nicht…) ein Sympathiebeweis für Leonard Bernstein.
2000 Konzerte mit 2014 Pianisten und 2,1 Millionen Besuchern hat das Klavier-Festival Ruhr bisher seit 1987 akkumuliert; nicht wenige davon spielten in dieser Zeit die weiteren Mitwirkenden der ersten, streng klassischen Konzerthälfte seit den 1996 beginnenden Intendantenjahren Franz Xaver Ohnesorgs, der diese Saison mit nur 10 Mitarbeitern in der Administration allein 32 Spielstätten bestückt. Und auf 112 (!) seit 2005 erschienen CDs sind ein Teil dieser Auftritte, vor allem aber auch eine unüberschaubar vielfältige Repertoirefülle festgehalten. Also singt Juliane Banse (deren Mann Christoph Poppen hat ebenfalls an diesem 9. März Geburtstag) abendlich zwielichtigen Schubert, und die dieses Jahr für 22 Auftritte mit dem Festivalpreis ausgezeichnete Elena Bashkirova spielt zurückhaltend nobel die feinen Mini-Stimmungsaufheller aus Tschaikowskys „Kinderalbum“. Zum Höhepunkt aber gerät die glasklar ausgezirkelte Klangcharakterisierungskunst Olli Mustonens in den opuszahlosen, rar zu hörenden Zwölf Beethoven-Variationen über den russischen Tanz aus dem Ballett „Das Waldmädchen“ von Paul Wranitzky.
Im zweiten, kompakteren Konzertteil kommt schließlich auch der von FXO so geliebte Jazz zu seinem Hörrecht. Till Brönner bläst Trompete im Duo mit den Bassisten Dieter Ilg. Thomas Quasthoff, der hier 2015 wieder das Singen aufnahm, liefert eine leise, reflektierte „Imagine“-Version und das freche, aber passende Bonmot, FXO feiere ja wie ein Sonnenkönig, aber „schön, dass sich das Ruhrgebiet einen Sonnenkönig leistet“. Dann fragt er sich mit Frank Chastenier am Klavier im Quartett „Can’t We Be Friends?“. Den fulminanten Schlusspunkt unter einen schönen Abend setzt freilich der Turboteufel Michel Camilo mit einer furios wirbelnden Paraphrase auf „I got Rhythm“. Dann Blumen in Fülle und „Happy Birthday“ von und mit allen.
Notenvoll und impressionsangereichert geht es zum Büffet im Mendelssohn-Saal unter den krass gründerzeitlichen Majolika-Makart-Fliesengemälden. Passend zur FXO-Herkunft gibt es Leberkäs, Brezen und Obatzda – und natürlich ein rotes Marzipantortenklavier mit einem so süßen wie essbaren Geburtstagskind vorne draufsitzend. Das seine Stiftungshausaufgaben gemacht hat. Der Fortbestand des Klavier-Festival Ruhr als weltweit größtem und gehaltsvollen Pianistentreff, von dem das treue Publikum nicht genug bekommen kann, er ist in jedem Fall für die Zukunft gesichert.
Der Beitrag 30 Jahre Klavier-Festival Ruhr, 70 Jahre FXO: Feiern wie bei Sonnenkönigs erschien zuerst auf Brugs Klassiker.