Sizilien, Palermo im Speziellen. Da rattert doch gleich die Assoziationsmaschine los: Insel, Meer, Flüchtlingen, Mafia, Korruption, Katholiken, Müll, Ätna, Mumien in der Kapuzinergruft, Frutti di mare. Das zumindest bekommt man nun in der Zurichtung des Theaterstarregisseur Antú Romeo Nunes zu sehen, der einen optischen Gimmick nach dem anderen setzt, aber keine wirklich fesselnde Story zu erzählen vermag. Nunes hat 2014 an der Bayerischen Staatsoper bisher nur mit seiner längst schon wieder aus dem Spielplan verschwundenen Version von Gioachino Rossinis Monsterwerk „Guillaume Tell“ bewiesen, dass er als Musiktheater-Novize mit dem Genre Grand Opéra nicht wirklich viel anfangen kann. Deshalb wohl bekam er jetzt – nach einer ebenfalls schnell verbluteten Splatter-Version von Marschners „Der Vampir“ an der Komischen Oper Berlin – in München eine zweite Gelegenheit zum Üben. Und zwar wieder mit einer so schwerfälligen Schwarte wie Giuseppe Verdis zwischen lauter Erfolgsstücken klemmender „Sizilianischer Vesper“, die hier 50 Jahre nicht gezeigt wurde. Es war nur wenig besser.
Warum kriegt man diese Verdi-Oper, inzwischen die einzige Abweichlerin in der sonst nie abreißenden Erfolgskette zwischen „Rigoletto“ (1851) und „Falstaff“ (1893), fast nie zu sehen? Schließlich bietet die Handlung des als „Les Vêpres Siciliennes“ uraufgeführten, wenn überhaupt aber nur als italienische „I Vespri siciliani“ gegebenen Opus den durchaus üblichen, beliebt vollsaftigen Verdi-Stoff: blutige Revolte der Einheimischen gegen die französischen Besatzer im mittelalterlichen Sizilien, ein schwer verliebtes Tenor-Sopran-Duo, ein fanatischer Bariton-Patriot und ein starrsinnig-grausamer Vater als Herrscher. Sogar die auf ein Libretto aus der Eugène-Scribe-Schreibwerkstatt immer noch gern als Grand-Opéra-Auftragsarbeit geschmähte Musik des 1855 in Paris erstmals gegeben Fünfakters mit obligatorischem Ballett atmet bei allen Zugeständnissen glamouröse Konvention und eine wunderbar eklektizistische Majestät – mit großformatig-leidenschaftlichen, auch extrovertiert-virtuosen Arien, flirrend-brodelnden Ballrhythmen, komplexen Ensembles und aufrüttelnden Chören. Kein Zweifel, der mittlere, inzwischen europaweit geschätzte Verdi konnte auch hier mehr als nur sein Handwerk.
Aber dann merkt man es schnell, auch im Verlauf dieses sich hinziehenden Münchner Abends: Die vier Hauptpartien sind einfach unglaublich schwer. Besonders der Tenor muss Kraft, Stehvermögen und ein hohes D haben, Verzierungen und das große Drama beherrschen. Die Sopranistin muss sich über den Chor stemmen, später einen fein mit Trillern auskolorierten Bolero singen, kurz bevor hier alles im Blut watet, sie selbst erschossen daliegt. Und die beiden tiefen Männerrollen, mit ihrem dunklen Hassfeuer, ihrer stoischen Beharrlichkeit, aber auch ihrer in den Noten legatoweich fließenden Liebe zu den ihren und ihrem Land, sie gehören überhaupt zu den schönsten, dankbarsten, die sich in Verdis reicher Galerie der Väter, Bösewichter und negativen Elemente finden.
Die Bayerische Staatsoper hat dafür eine ordentliche, keine strahlende Besetzung aufgeboten. Was an dem in der Rolle des Henri eigentlich versierten Bryan Hymel lag. Der war vokal deutlich angeschlagen, hustete auffällig in der zweiten Hälfte, kam gerade so mit viel Pressen und guter Technik durch seine Arie, verschwand im großen Duett mit Hélène zeitweilig (man war noch im Glauben eines weiteren Regieeinfalls…) und bewegte im fünften Akt nur noch den Mund, während eine weitere Tenorstimme von rechts sang. Die entpuppte sich dann (die Staatsoper war auch am Ende zu keiner erklärenden Ansage fähig) als Einspringer Leonardo Caimi, der so die Vorstellung rettete.
Als Kleiderpuppe und Spielobjekt der Männer war Rachel Willis-Sørensens Hélène auf der Szene arrangiert und allein gelassen. Mal in Schwarz mit riesigen Smokey Eyes, mal als weiße Krinolinenbraut an Stoffbahnen fixiert, so stand sie ihre Primadonna. Ebenfalls schon früher gegen Carmen Giannattasio eingetauscht, prunkte sie mit solider Technik, aber nicht ganz freier Höhe und allzu sorgfältig artikulierter Koloratur. Da ist jemand vokal schon auf dem Weg in schwerere Gefilde, doch bewältigte sie diese Zwischenfachpartie mit Anstand, leider aber zu wenig Persönlichkeit, da die Regie für sie nur eine weibliche Leerstelle vorgesehen hatte.
Schon Bryan Hymel ist ein eher unbegnadeter Schauspieler, das gilt auch für den sich auf schöne, fließende Baritontöne (vor allem liegend in seiner großen Arie „Au sein de la puissance“) verlassenden, nicht über Standbein und mit einer Machete wedelnden Ruderarmen hinauskommenden George Petean als Monfort. Und selbst Erwin Schrott, der seit seinem Rollendebüt 2013 in London ein paar Zwischentöne für den sinister bösen Procida hinzugefunden sind, der als aus dem Exil zurückkehrender Arzt niemand heilen, nur Rache will, er verlässt sich allzu sehr auf seine Macho-Aura. Aber was soll er auch machen, wenn er von Kostümbildnerin Victoria Behr als silbrig-troddelige Inkarnation eines sizilianischen Marionettenritters (noch sein Klischee) abgestempelt wird?
Bedeutsam sind auch hier die Chöre, die Stellario Fagone prächtig einstudiert hat und Nunes wieder nicht sonderlich variantenreich zu führen versteht. Historisch bewegt man sich (nichts Neues) in der Entstehungszeit, die Franzosen tragen Uniformen, die Sizilianer Plebejertracht und alle sind sie (Kapuzinergruft!) nur totenschädelige Schatten aus dem Jenseits. Doch vor dieser öden Nacht der lebenden Opernleichen gruselt man sich keine Sekunde. Weil diese Inszenierung nie zu einem Punkt und einer Haltung kommt, ihre sowieso schon austauschbare Geschichte nur unwillig erzählt, sich lieber auf plakative, weitgehend leerlaufende Effekte verlässt.
Als akustisch ungünstiges, weil allzu offenes Bühnenbild lässt Matthias Koch schwarze Plastikplanen rauf und runterfahren. Die wellen sich schon in der von Omer Meir Wellber knackig, trocken und federnd auf den Verdi-Punkt gebrachten Ouvertüre als Leichentuch, fügen sich zu einem Riesenmüllsack (Palermo, der Müll und der Tod) oder türmen sich vulkangleich. Der Berg speit dann auch – Achtung, gleich folgt die Apokalypse in Form des titelgebenden, aber szenisch versemmelten Finalmassakers! – ein paar Balletttänzer aus, die einen amputierten Rest der aus dem dritten Akt hierher verfrachteten „Vier Jahreszeiten“-Einlage powackeln. In verschrobenen, schwarzweißen Frutti-di-Mare-Outfits lässt sie der Choreograf Dustin Klein die Glieder verrenken. Und das Klangdesign-Duo Nick & Clemens Prokop hat dafür ein paar Verdi-Takte durch den Computer gejagt, die jetzt als röhrende Techno-Mucke aus den Lautsprechern knallen. Schrott muss dazu eher peinsam in Mikro grölen, und Meier Wellber lässt, mit schniekem Silberkopfhörer angetan, dazu die Staatsorchesterstreicher fiepen. Sehr alt aussehender Zeitgeist. Ach ja, und ein Flüchtling mit Migrationshintergrund und Schwimmweste wird auch noch als toter Bruder der Hélène zur garantiert nicht letzten Statistenruhe gebettet.
Das ist alles sehr holzschnitthaft, unfertig und banal, vor allem dann, wenn es sich immer wieder auf pure Rampensingerei reduziert. Aber immerhin gewährt Omer Meir Wellber in seiner bisher dritten und besten Münchner Premiere diesem raren Verdi Gerechtigkeit. Sein fokussierte Interpretation müht sich um größtmögliche Schlankheit, Akkuratesse, melodische Schnittfestigkeit, bisweilen auch französisch pikantes Flair. Eine brodelnde, schnell klangexplodierende Atmosphäre aus Düsternis, Todessehnsucht und Leidenschaft gelingt so, die die szenische Seite dieser „Vêpres siciliennes“ mit ihrem routinierten Regenfall und Konfettigestöber, Slow Motion-Formationen und einer toten, zur Heiligen Rosalia verklärten Mama als Lachnummer im Aquarium so schmerzlich vermissen lässt.
Kostenlos und in voller Länge live auf www.staatsoper.tv am 18. März ab 18 Uhr
Der Beitrag „Les Vêpres siciliennes“ in München: Palermo, dein Tänzer ist der Techno-Tod erschien zuerst auf Brugs Klassiker.